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Teodoro Anzellotti, George Aperghis und Emilio Pomàrico – die Orgel wäre auch nicht weit … Foto: Astrid Ackermann
Teodoro Anzellotti, George Aperghis und Emilio Pomàrico – die Orgel wäre auch nicht weit … Foto: Astrid Ackermann
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Abheben in künftige Räsonanzräume

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Premiere für Werke von Aperghis, Saunders und eine neue Konzertreihe beim musica-viva-Wochenende
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Was passiert, wenn man ein Akkordeon ins Orchester setzt? Das Orchester beginnt, in Zungen zu reden. Tief einatmend bläst es seinen Balg auf, der Wind pfeift leise durchs Schlagwerk. Im nächsten Moment kann es aber auch die scharfe Attacke beantworten, zu der das Akkordeon fähig ist.

George Aperghis nimmt mit seinem beim musica-viva-Wochenende in München uraufgeführten Concerto für Akkordeon und Orchester zunächst einmal die Grundkonstellation ganz wörtlich: Hier spielt sich ein Instrument zum Solisten auf, das man nicht von vorneherein mit der ernsten Musik im Allgemeinen und mit der Neuen Musik im Speziellen assoziiert. Die Reaktion des alteingesessenen Orchesterapparats ist umso verblüffender. Er mutiert zur Echokammer, nähert sich dem Timbre des Akkordeons immer wieder stark an. Dabei interessiert sich Aperghis vor allem für das hohe Register des (von Teodoro Anzellotti mit brillanter Doppelbödigkeit gespielten) Soloinstruments und für die Obertöne, die sich in der Mittellage ergeben. Beides spiegelt sich hauptsächlich in den hohen Streichern wider.

Die zum instrumentalen Theater tendierende Konzertsituation wird noch geschärft durch die Präsenz eines anderen prominent in Szene gesetzten Ins-truments: Ein gleichfalls vorne sitzender Organist macht dem Solisten seinen Rang streitig, versucht den Prestigevorsprung, den die von ihm repräsentierte kirchenmusikalische Sphäre dem „Schifferklavier“ gegenüber hat, auszunutzen. Der Reiz dieser verkappten Doppelkonzert-Rivalität (gegen Ende findet gar eine kleine gemeinsame Kadenz statt) wäre akustisch wirkungsvoller gewesen, wenn tatsächlich die Orgel des Herkulessaals erklungen wäre. Der elektronische Klang wirkte wie ein halbherziger Kompromiss. Auch mangelt es Aperghis’ neuem Stück nach der faszinierenden Anfangsphase ein wenig an formaler Stringenz; die konzertante Dreisätzigkeit, die innerhalb des pausenlosen Halbstünders vage durchschimmert, prägt keine zwingende Dramaturgie aus.

Pur hatte man zuvor einen anderen Solitär an seinem Instrument erleben können: Marco Blaauw setzte die von Rebecca Saunders abgesteckte, vor über zehn Jahren mit „blaauw“ begonnene Expedition ins Innere des Trompetenklangs fort. „White“ heißt nun die neue, mit Farbwechseln und Obertönen arbeitende Studie, die vor allem dort Spannung aufbaut, wo sich zwischen gedämpften und ungedämpften Tönen eine Art Duo im Solo entwickelt. Zwanzig Minuten geblasene Erkundungen an den Außengrenzen des Instruments.

Der Blick zurück in die Geschichte der Moderne, den die musica viva dankenswerter Weise immer wieder öffnet, richtete sich beim Eröffnungskonzert auf Stefan Wolpe. Der USA-Emigrant, der um seinen Platz im Musikleben Zeit seines Lebens kämpfen musste und nie so recht ankam, schrieb 1955 seine herbe, rhythmisch-metrisch äußerst komplexe erste Symphonie. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter dem bewundernswert schlagsicheren Emilio Pomàrico wirkte im ersten Satz noch allzu abgeklärt, dabei aber nicht hundertprozentig sicher. Deutlich griffiger geriet dann der streng durchorganisierte Tumult des zweiten Satzes und im dritten schien sich in den plötzlichen Stauchungen auf einmal so etwas wie Freiheit innerhalb der selbst auferlegten Ordnung anzudeuten.

Insgesamt also ein würdiger Auftakt des Kompaktfestivals, dessen Nachtkonzert in der Michaelskirche anschließend zum Publikumsmagneten avancierte. Die vollbesetzten Bänke wurden im vorderen Drittel zunächst vom Chor des Bayerischen Rundfunks umstellt. Trotz der einen oder anderen zu individuell hervortretenden Stimme und winziger Intonationstrübungen entfaltete sich Thomas Tallis’ 40-stimmiges „Spem in alium“ mit visionärer Kraft im Kirchenraum, öffnete ihn gleichsam für seine Verwandlung in die von Morton Feldman so unnachahmlich ausgehörte „Rothko Chapel“. Die Gelassenheit und Konzentrationsdichte von BR-Chor, Vokal- und Instrumentalsolisten unter der Leitung Peter Dijkstras waren exemplarisch. Feldmans „Principal Sounds“ fielen dagegen ab, was sicher nicht am Organisten Bernhard Haas lag. Dazwischen und am Ende stellten in kleiner Besetzung ausgezeichnet gesungene Lasso-Lamentationen und der präminimalistisch stehende Klang von Josquins 24-stimmigem Kanon „Qui habitat“ vermittelnde Kontraste her.

Tags darauf feierte dann ein neues Konzertformat Premiere im Prinzregententheater: „räsonanz“, das erste von der Ernst von Siemens Musikstiftung selbst initiierte Projekt dieser Art, eine Zusammenarbeit mit der musica viva und dem Lucerne Festival. Aufwändige Orches­teraufführungen will die Stiftung damit ermöglichen und anerkannten Werken der jüngeren und jüngsten Musikgeschichte eine breitere Wahrnehmung im Repertoire verschaffen.

György Ligetis „Clocks and Clouds“ und Pierre Boulez’ „Cummings ist der Dichter“ sind solche Werke, die wegen der anspruchsvollen Chorparts eher selten aufgeführt werden. Ligeti reflektierte Anfang der 1970er-Jahre seine er­s­te Begegnung mit der Musik Steve Reichs und Terry Rileys und komponierte auf Anhieb eines der besten Stücke im minimalistischen Umfeld. Das Changieren zwischen repetitiver Strenge und tonlich-harmonischer Unschärfe geriet in der ebenso sinnlichen wie präzisen Wiedergabe der Mitglieder des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden/Freiburg und der Frauen des SWR Vokalensembles zum Faszinosum. Die Gegenüberstellung mit Boulez’ nicht minder klangsensiblen, aber anders gearteten Strukturen erwies sich als höchst erhellend.

George Benjamin hatte zu Beginn sein frühes Durchbruchswerk „Ringed by the Flat Horizon“ dirigiert, ein effektvolles, brillant orchestriertes Stück stilisierter Naturbetrachtung. Das SWR Sinfonieorchester blieb ihm nichts an Farbigkeit und Atmosphäre schuldig. Dessen Verpflichtung für den räsonanz-Auftakt war natürlich als eine Abschieds-Hommage an einen Klangkörper zu verstehen, den es in dieser Form bald nicht mehr geben wird.

Was wir vermissen werden, wurde beim Haupt- und Abschlusswerk des grandiosen Abends schmerzhaft deutlich: Wer wird künftig in der Lage und willens sein, ein Ausnahmestück wie „limited approximations“ von Georg Friedrich Haas auf diesem Niveau regelmäßig aufzuführen, wie das seit der Donaueschingen-Premiere 2010 mehrfach der Fall war? Schwirrend schienen die sechs im Zwölfteltonabstand verstimmten Flügel gemeinsam mit dem Orches­ter abzuheben.

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