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Bei völliger Dunkelheit zu goutieren

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Aktuelle CDs mit Kammermusik für Cello und Klavier
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Dem Mendelssohn-Jahr verdanken wir mindestens drei neue Einspielungen seiner Werke für Violoncello und Klavier, von denen die historisch informierte mit Sergei Istomin und Viviana Sofronitsky an einer Kopie eines Graf-Fortepianos besondere Beachtung verdient, allerdings weniger wegen des gewöhnungsbedürftig schwach, aber obertonreich klingenden Tasteninstruments als wegen der kantablen Virtuosenkünste Istomins.

Anton Rubinstein (1829–94), einer der größten Klaviervirtuosen des 19. Jahrhunderts, war auch ein ambitionierter und überaus fruchtbarer Komponist. Nachdem seine Orchesterwerke nicht gerade zu epigrammatischer Kürze neigen, verwundert es kaum, dass seine beiden Cellosonaten aus den 1850er-Jahren es zusammen auf satte 70 Minuten Spielzeit bringen. Entstanden in der Hoch-Zeit romantischen Gefühlsüberschwanges, in die zugleich die Jugendjahre Rubinsteins fielen, ist hier des Schwelgens kein Ende, und es ist ein großes Verdienst von Jiri Bárta und Hamish Milne, diese wirklich lohnende Musik dem Vergessen entrissen zu haben.

Das dreiteilige CD-Projekt „Brahms und seine Zeitgenossen“, das Johannes Moser und Paul Rivinius einige Zeit beschäftigte, liegt seit dem vergangenen Jahr abgeschlossen vor. Darin wurden den beiden Cellosonaten (nebst einigen Liedtranskriptionen), die an Qualität alle damaligen Konkurrenten turmhoch überragen, Raritäten aus dem räumlichen, zeitlichen oder stilistischen Umfeld Brahms’ an die Seite gestellt. Für nicht bloß hörenswert (denn das sind alle Aufnahmen Mosers), sondern repertoiretauglich halte ich die leidenschaftliche, schon halb kanonisierte Jugendsonate von Richard Strauss in Vol. II und die sehr sanglichen „Acht Stücke“ von Theodor Kirchner (1823–1903) in Vol. III.

David Popper (1843–1913) galt im späten 19. Jahrhundert als der „Liszt des Cellos“ und komponierte für sein Instrument neben vier ausgewachsenen Konzerten viele effektvolle Zugabestücke, von denen einige auf László Mezös schönem Recital vertreten sind. Das substanziellste Werk darauf war hundert Jahre vergessen: die Suite op. 69, im Grunde eine verkappte Cellosonate. Aber auch die stilisierten Tänze Poppers erfahren durch die temperamentsprühende Wiedergabe des Duos Mezö/Farkas eine verdiente Ehrenrettung.

Zwei Komponisten, die in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis standen und den Begriff „Orgelsymphonie“ assoziieren, stellen Peter Bruns und Annegret Kuttner in der ersten Lieferung ihrer Reihe „Französische Werke für Cello und Klavier“ als Kammermusiker vor: Charles-Marie Widor (1844–1937) und Louis Vierne (1870–1937), deren Cellosonaten am Vorabend des 1. Weltkriegs entstanden – wobei derjenigen Widors schon wegen ihres ungleich lebendigeren Klavierparts die Krone gebührt. Gabriel Faurés vollständiges Schaffen für Violoncello und Klavier, in dessen Mittelpunkt zwei Sonaten stehen, haben Maria Kliegel und Nina Tichman aufgenommen. Um die beiden späten, erst nach dem 1. Weltkrieg geschriebenen Nachzügler der romantischen Ära, gruppieren sich acht kurze, aber eingängige Charakterstücke früheren Datums („Après un rêve“, „Berceuse“, „Sicilienne“), deren Charme wir dank der beiden Damen gerne erliegen. Ein ebenso wichtiges Projekt realisierte der junge, schon vielfach preisgekrönte Nicolas Altstaedt, der für seine Debüt-CD das vollständige Cello/Klavier-Schaffen von Vincent d’Indy (1851–1931) und Gabriel Pierné (1863–1937) einspielte. Deren Sonaten sind jeweils anspruchsvolle Spätwerke aus den zwanziger Jahren, Pierné wagte sogar einen über zwanzigminütigen, raffiniert gebauten Einsätzer. Zur Auflockerung hat Altstaedt ein entzückendes Jugendwerk der als Kompositionslehrerin legendären Ruf genießenden Nadia Boulanger eingeschoben.

Bekanntlich hat Jean Sibelius die Violine mit kleinformatigen Stücken reich bedacht; dass auch sein Output für das Cello (ohne Bearbeitungen!) abendfüllenden Umfang erreicht, erfahren wir nun anhand der zweiten Kammermusik-Box innerhalb der Gesamtausgabe, die eine Fülle von Ersteinspielungen reizvoller, wenn auch nicht immer vollständig erhaltener Stücke wechselnden Anspruchs aus den Jahren 1887–89 enthält; der große Finne schrieb sie für seinen jüngeren Bruder Christian, einen begabten Amateurcellisten. Als veritabler Fund darf ein dreizehnminütiges Variationenwerk für das Solocello gelten, das Torleif Thedéen wie alles Übrige mit Bravour und sicherem Geschmack meistert. Sibelius’ Schaffen für die Besetzung Cello und Klavier kulminiert in dem wild bewegten Einsätzer „Malinconia“ op. 20 (1900). Einen eher leichtgewichtigen Ausklang bilden um 1915 „Zwei ernste Melodien“ und „Vier Stücke“ op. 77/78, von denen es geläufigere Geigenfassungen gibt.

In der ersten Folge ihres Streifzugs durch die niederländische Kammermusik für Cello und Klavier stellen Doris Hochscheid und Frans van Ruth Sonaten des 20. Jahrhunderts vor. Der älteste und zugleich bekannteste der drei vorgestellten Komponisten, Willem Pij-per (1894–1947) ist mit Werken aus den Jahren 1919 und 1924 vertreten, von denen das erste und interessantere, welches ohne Debussys Gattungsbeitrag undenkbar wäre, sogar in Schönbergs „Verein für musikalische Privataufführungen“ Gehör fand. Die kurz vor dem Ersten Weltkrieg geborenen Tonsetzer Rudolf Escher und Luctor Ponse schufen ihre klassischer gehaltenen Sonaten erst in den vierziger Jahren. (Die zweite, Julius Röntgen gewidmete Folge der Serie ist trotz redlicher Mühen von Seiten der Musiker weniger ergiebig.)

Alberto Ginastera (1916–83) war in zweiter Ehe mit einer Cellistin verheiratet; das hat sein schmales, aber gewichtiges Schaffen für das Instrument ausgesprochen beflügelt. Neben der solistischen, aus gutem Grund häufiger zu hörenden Hommage à Paul Sacher gibt es von ihm zwei klavierbegleitete, mit atemloser Spannung aufwartende Originalwerke aus verschiedenen Schaffensphasen, welche die CD mit dem fantastischen Mark Kosower (der auch die „Fünf argentinischen Volkslieder“ op. 10 einfühlsam arrangierte) und der kongenialen Jee-Won Oh zu einer willkommenen Werbeveranstaltung für die Qualitäten des großen Südamerikaners machen.

William Bolcom, ein 1938 geborener US-Amerikaner, wird in Europa immer noch zu wenig wahrgenommen. Dabei hat gerade seine Kammermusik viel zu bieten: Tragfähige Melodien, mitreißende Rhythmen, ungewöhnliche Klangfarben und Überraschungen wie zum Beispiel der Dialog zwischen Cello und Kesselpauken in der bei völliger Dunkelheit zu goutierenden „Dark Music“. Norman Fischer, der sich fast ein ganzes Cellistenleben hindurch für Bolcom einsetzt, ist sein idealer, vor Temperament strotzender Interpret. Puristen sollen meinetwegen schimpfen über den Eklektizismus dieser Musik – großartig komponiert ist sie allemal. Wer mit Bernsteins Changieren zwischen „E“ und „U“ zurechtkommt, darf auch bei Bolcom bedenkenlos zugreifen.

Ein ähnlich enges, langjähriges Verhältnis zwischen Komponist und Interpret findet sich zwischen Anatolijus Šenderovas (Jg. 1945) und David Geringas, die beide aus Litauen stammen. Keine zwei Stücke weisen die gleiche Besetzung auf: Sie reichen vom Cellosolo über Duos mit Klavier beziehungsweise Schlagzeug bis hin zu Cello und Streichquartett („David’s Song“) sowie Cello, Bajan, Perkussion und Zuspielband („Songs of Shulamith“). Šenderovas’ quicklebendige, stets faszinierende Musik kann stilistisch kaum verortet werden; unvermutet auftauchende folkloristische und improvisatorische Elemente machen sie unvorhersehbar.

Diskografie

Die Titel der CDs erscheinen in deutscher Übersetzung; an zweiter Stelle wird stets der Pianist genannt.

  • Felix Mendelssohn Bartholdy: Sämtliche Werke für Violoncello und Fortepiano. Sergei Istomin, Viviana Sofronitsky Passacaille/Note 1 947
  • Anton Rubinstein: Cellosonaten. Jiri Bárta, Hamish Milne
    Hyperion/Codaex CDA67660
  • David Popper: Musik für Cello und Klavier. László Mezö, Gábor Farkas
    Hungaroton/Klassik Center Kassel HCD 32627
  • Brahms und seine Zeitgenossen, Vol. II: Sonaten von Johannes Brahms (No. 1), Heinrich von Herzogenberg (No. 3) und Richard Strauss. Johannes Moser, Paul Rivinius
    Hänssler Classic/Naxos CD 93.207
  • Brahms und … Vol. III: Giuseppe Martucci: Sonate; Johannes Brahms: Sechs Liedtran-skriptionen; Theodor Kirchner: Acht Stücke
    Hänssler 93.208
  • Gabriel Fauré: Cellosonaten 1 & 2, kleine Stücke. Maria Kliegel, Nina Tichman
    Naxos 8.557889
  • Französische Werke für Cello und Klavier Vol. 1 – Charles-Marie Widor: Cellosonate, Cellosuite; Louis Vierne: Cellosonate. Peter Bruns, Annegret Kuttner
    Hänssler/Naxos CD 98.294
  • French Cello Sonatas – Gabriel Pierné, Vincent d’Indy, Nadia Boulanger. Nicolas Alt-staedt, José Gallardo
    Naxos 8.572105
  • Jean Sibelius Werkausgabe Vol. 9: Kammermusik II. darin: Sämtliche Werke für Cello und Klavier. Torleif Thedéen, Folke Gräsbeck
    BIS/Klassik Center Kassel CD-1924/26 (5 CDs)
  • Holländische Cellosonaten Vol. 1: Rudolf Escher, Willem Pijper, Luctor Ponse. Doris Hochscheid, Frans van Ruth
    MDG Audiomax/Codaex SACD 903 1534-6
  • Alberto Ginastera: Die Musik für Cello und Klavier. Mark Kosower, Jee-Won Oh
    Naxos 8.570569
  • William Bolcom: Sämtliche Cellowerke. Norman Fischer, Jeanne Kierman. Naxos 8.559348
  • David’s Song – David Geringas spielt Anatolijus Senderovas. Verschiedene Interpreten
    Profil Edition/Naxos PH9005

 

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