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Colin Stetson und Sarah Neufeld. Foto: Stefan Pieper
Colin Stetson und Sarah Neufeld. Foto: Stefan Pieper
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Das Festival selbst ist in diesem Jahr Preisträger

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Diskurse und Emotionen beim 44. Moers-Festival
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Er wolle auf jeden Fall diesen Preis mit seinem Vorgänger Burkhard Hennen teilen, betonte der künstlerische Leiter des Moers-Festivals Reiner Michalke. Beim Sonntagsempfang in der neuen Festivalhalle wurde dem Kölner der Preis des European Jazz Networks überreicht – im Beisein von Kulturstaatsministerin Monika Grütters. „Moers ist eines der ältesten und immer noch lebendigsten Jazz-Festivals in Europa, das sich stets der Erneuerung und dem Experiment widmet, und gleichzeitig seiner großen Geschichte treu bleibt“, lautet das Fazit der Jury. Wenn es um musikalische Abenteuerlust, gepaart mit einer hellhörigen Offenheit beim Publikum geht, baut Michalke seit zehn Jahren auf dem Lebenswerk des einstigen Festival-Begründers. Er hat viel erneuert, hat das Festival anders vernetzt, hat sich um Konsens bemüht und die Zukunft gesichert.

Künstlerische Konsequenz bleibt nach wie vor oberstes Gebot – und die neue Festivalhalle mit ihren guten akustischen Gegebenheiten profiliert „Moers“ noch mehr als etabliertes, internationales Musikereignis. Und wo zurzeit viel diskutiert wird, ob und wieweit Musik aus der Gesellschaft hervorgeht, wenn sich deren Mitglieder zu artikulieren und einzumischen wissen, da hatte vor allem ein Beitrag auf diesem Festival eine besondere Symbolkraft: Mitten in den instrumentalen Traumsequenzen eines Streicher-Bläser-Ensembles der Französin Eve Risser erhoben sich Menschen im Publikum. Sie wurden immer mehr, um sich gemeinsam auf Unerwartetes einzuschwören und sich schließlich im Gesang zu vereinen. Erst reichlich zufällig, fast clusterhaft, später immer einheitlicher einen großen vokalen Teppich webend. Das brachte einen theatralischen Effekt in die Musik. Der Konzertbetrieb braucht mehr solcher Happenings, um die althergebrachte Frontalsituation aufzumischen. Es gibt doch viele solcher Möglichkeiten, man muss sie nur nutzen – vor allem, wenn Reiner Michalke gerade in der frei improvisierten Musik jenes prädestinierte Mittel sieht, um auf gesellschaftliche Krisen am flexibelsten zu reagieren.   Was von den vielen Künstlern, Bands und Projekten zurückgegeben wurde, schlug sich bei der 44. Festivalausgabe weniger in Programmatik, dafür umso mehr in unmittelbarer Emotion nieder.

Ans Widerständige appellieren

Natürlich nicht, ohne dabei ans Widerständige zu appellieren, um die schönen Oberflächen des Unterhaltsamen zu durchbrechen: Geballte Lebensenergie und noch mehr Wut artikulierte sich in den harschen Wortsalven von Jelena Kuljic von der Band „Z-Country Paradise“ – einer aus Serbien stammenden und heute in Berlin lebenden Sängerin und Theater-Performerin. Sie hat schon einiges – vor allem im Balkan-Krieg – hautnah und heftig erlebt. Ihre Worte widerspiegeln solche Empfindungswelten und sind von den wuchernden literarischen Ideen eines Arthur Rimbaud genährt. Sie zieht für ihren auf der Bühne eindringlich ausgelebten Spoken-Word-Gesang auch einige Rimbaud-Texte direkt heran. Ihre nicht minder spielwütig drauflos rockende Band „Z-Country Paradise“ – unter anderem mit Frank Gratkowski und Kalle Kalima – ließ „drumherum“ die musikalischen Ideen explodieren.

Das Moers-Festival hat sich immer schon darum verdient gemacht, die Entwicklung bestimmter Musiker kontinuierlich abzubilden und damit auch zu fördern. Auch der britische Sound­abenteurer Colin Stetson war schon oft ein Gast in  Moers. Gleich mehrmals an diesen Tagen erzeugte dessen einzigartige Spielweise auf teilweise extrem tiefen Saxophonen spektakuläre, nicht selten emotional aufwühlende Zustände auf der Bühne und im Publikum. Mit seiner schier unfassbaren Zirkularatmungs-Technik steht Stetsons Ästhetik völlig quer zu jeder Jazzidiomatik, vor allem zu jeder Form von Linearität. Arpeggien und Texturen werden zu Flächen verdichtet – überhaupt geht es ums Evozieren von vielschichtigen Zuständen, die alle gleichzeitig stattfinden, und weniger um Abläufe. Man mag an Minimal Music denken, oder auch an die Riffs der Rockmusik. Denn bei aller Mehrstimmigkeit und Mehrschichtigkeit in Stetsons Spiel kommen auch wieder melodische Muster und Hooklines ins Spiel. Das verdichtet noch zusätzlich die Emotionalität des puren, nicht selten rohen Klangs.

Das Publikum geriet mehrmals zuverlässig in Trance: Kammermusikalisch beschwörend agierte Stetson am Eröffnungsabend im Duo mit seiner Partnerin Sarah Neufeld, welche Stetsons Tonkaskaden wie in einer Art Symbiose auf der Violine mit beschwörendem Arpeggien-Spiel beantwortete. Extrem brachial wurden später in einer Triobesetzung monochrome Klangzustände fast schon physisch schmerzhaft auf die Spitze getrieben. Und alle ließen sich betören und spirituell mitreißen, als Stetsons Arpeggiospiel das Epizentrum eines breitwandigen Gefüges bildete in Henryk Goreckis „Dritter Sinfonie“, wo ein ganzes Orchester mit regelrecht rockigem Pathos aufspielte. Erstaunlich und plausibel zugleich wirkte es, wie Stetsons Spiel sehr unmittelbar an Goreckis Tonsprache „anzudocken“ wusste.

Sich neu erfinden

Sich neu erfinden tat auch ein anderer, der ebenfalls zu den sorgsam gehegten „Pflänzchen“ auf dem Moers-Festival – oder besser gesagt zu den persönlichen Referenzpunkten in Reiner Michalkes nunmehr zehnjähriger künstlerischer Leitung gehört: Peter Evans war vor Jahren eine Entdeckung aus der New Yorker Szene. Aktuell zeigt er sich als einer der schwindelerregendsten Trompeter am zeitgenössischen Jazzhimmel. Evans und seine Gefährten vom Trio „Pulverize the Sound“ wussten in der Festivalhalle, was zu tun ist, damit sich auch der Jazz in Moers nach wie vor als relevantes Thema behaupten darf.

Das Dekonstruieren scheinbar gewohnter Muster, das improvisatorische Sich-Einverleiben für eine neue große Sache, gelingt hier in manchmal fast beängstigender Konsequenz – deswegen auch das Wort „pulverisieren“.  Evans’ gleißende Trompetenphrasen loderten und überschlugen sich über einem extremen Trommelfeuer von Bass und Schlagzeug, welches jeder Metalband zur Ehre gerecht hätte. Aber – und das war ein erfrischender Gegensatz zur großen Dominanz repetitiver Strukturen bei vielen anderen Festivalbeiträgen: Jeder noch so kleine Partikel in diesem Spiel ist ausformuliert, plausibel und einen rasenden Diskurs bildend, in dem auch der schräge Humor nicht zu kurz kommt. So muss Jazz gehen, der aus dem Heute kommt!

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