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Die basel sinfonietta und Fritz Hauser spielen „schraffur für Gong und Orchester“. Foto: Lucerne Festival/Georg Anderhub
Die basel sinfonietta und Fritz Hauser spielen „schraffur für Gong und Orchester“. Foto: Lucerne Festival/Georg Anderhub
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Der Grenzgänger als Luzerner Leitmotiv

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Zwei Tage Moderne im Lucerne Festival 2010: Ein „(Z)eidgenössisCH“-Wochenende spürt dem Helvetischen nach
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Komplexe Algorithmen elektronischer Musik oder Überwältigungssound einer groovenden Funk-Band? Materialfragen postmoderner Komponisten oder die gute alte Funktionsharmonik? Spektrale Strukturen oder ein durchgängiges Metrum? Neue Musik und Jazz scheinen wirklich nichts gemein zu haben. Zwischen Jazz-und Rock-Innovatoren wie Sun Ra, Ornette Coleman oder Jimi Hendrix und Komponisten wie Helmut Lachenmann, Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen liegen Welten. Eine Generation später sieht das Bild allerdings schon anders aus: Im Bereich der Neuen Musik beziehen sich Komponisten wie Tobias PM Schneid, Moritz Eggert und Heiner Goebbels explizit auch auf Jazzmusik und Improvisation. Interpreten/Komponisten wie der Saxophonist Michael Riessler, der Trompeter Michael Stockhausen oder der Posaunist Mike Svoboda sind ernstzunehmende Grenzgänger.

Diesen Sommer wagte es das Lucerne Festival, einen dieser Grenzgänger zum Composer in Residence zu küren. Die Wahl fiel auf den Schweizer Komponisten, Trompeter, Pianisten, E-Bassisten, Kirchenmusiker, Bandleader und Hochschullehrer Dieter Ammann. Dass gerade sein Werk im Fokus der Moderne in Luzern war, hatte noch einen weiteren Grund. Festival-Intendant Michael Haefliger und sein Moderne-Dramaturg Mark Sattler hatten dieses Jahr auf Tonkunst made in Switzerland gesetzt. Eingebettet in das fünf Wochen dauernde Lucerne Festival erlebte am zweiten Septemberwochenende erstmals ein zweitägiges Festival unter dem Titel „(Z)eidgenössiCH“ seine Premiere, das allein 24 Uraufführungen bot. Seit 110 Jahren feiert der Schweizer Tonkünstlerverband jährlich sein Tonkünstlerfest: Zum ersten Mal war dieser Schweizer Großanlass für Neue Musik ans Lucerne Festival eingeladen worden. Weitere Uraufführungen innerhalb des Luzerner Festivalsommers, darunter die 2008 an Toshio Hosokawa vergebene Roche Commission, erhöhten die Zahl der Uraufführungen auf insgesamt 27.

Aus der Vielfalt des Neuen kristallisierten sich vier Namen heraus – alles Komponisten, die mit dem Orchesterapparat auf erfrischend neue Art und Weise umgehen: Dieter Ammann, Michael Wertmüller, Fritz Hauser und Toshio Hosokawa. Hatte man die Gelegenheit, Ammanns Freejazzquartett mit Christy Doran (g), Fredy Studer (dr) und Michael Wertmüller (dr) im neuen zeitgeistigen Veranstaltungsort Südpol zu erleben, dann wurde man Zeuge, wie in kurzer Zeit ein interaktiv entwickeltes Material aus Riffs, Patterns und musikalischen Gesten exponiert wurde, das man dann in verwandelter und gekonnt instrumentierter Form in Ammanns Orchesterwerken wiederzuerkennen glaubte. Das sprachähnliche, dialogische Wesen der improvisierten Musik wird ein fundamentales Entwicklungsprinzip in den Werken Ammanns. Ammann ist ein zupackender, entschlussfreudiger Improvisator, zugleich aber – wie er selbst eingestand – ein langsamer, abwägender Komponist: Sein Tryptichon „Core – Boost – Turn“, eines der zentralen Stücke des Festivalsommers, wurde nicht als Ganzes konzipiert, sondern war über beinahe ein Jahrzehnt gewachsen. „Core“ entstand 2002 als Auftragswerk des Lucerne Festival, „Boost“ bereits 2001 als Auftragswerk von Jonathan Nott und dem Luzern Sinfonierorchester. Nur „Turn“ war original von 2010. Die Gruppierung als Tryptichon ließ nun nicht etwa eine Suite ohne wesentlichen inneren Zusammenhang entstehen, sondern ein dreisätziges Orchesterstück „expressiv/bewegt – ruhig – expressiv/bewegt“. Die Aufgabe, Ammanns Tryptichon uraufzuführen, lösten das Lucerne Festival Academy Orchestra und Pierre Boulez gekonnt. 

Als Composer in Residence war Ammann vielfältig präsent, etwa mit seinen Streichquartetten Nr.1 „Geborstener Satz“ und Nr. 2 „Distanzenquartett“, am „(Z)eidgenössischen“ Wochenende aber insbesondere in einer Freejazz-Formation und als Leader einer Funk-Band. Zudem wurden noch zwei Madrigale Ammanns in der Luzerner Jesuitenkirche aufgeführt. Wahrhaft ein vollkommener Musiker.

Das lässt sich aber nicht nur von ihm sagen, sondern auch von dem Schlagzeuger und Komponisten Michael Wertmüller, der mit seinem dreisätzigen Orchesterstück „Zeitkugel“ für Klavier, Hammond-Orgel und Orchester die basel sinfonietta als Ensemble für Zeitgenössisches herausforderte und das Publikum in zwei Lager spaltete: in diejenigen, die sich überwältigen ließen von der Energie seines Orchesterzugriffs und in diejenigen, die Wertmüller Eklektizismus, fehlende Orchestrierungskompetenz und Größenwahn vorwarfen. Während Matthias Spahlinger mit seinem Orchesterstück „doppelt bejaht“ 2009 in Donaueschingen den Dirigenten abschaffte, das Orchester emanzipierte, benötigte Wertmüller gleich fünf Dirigenten, um den von ihm entfesselten Klangmassen Herr zu werden. Dazu kam, dass der Pianist Daniel Blum teilweise mit Kopfhörern – also in einem 6. Klangraum – spielte. Brachiale Sinfonik, hämmernde Rhythmik, auch hier gab es archaische Reminiszenzen an Rock und Jazz. Zu Wertmüllers Ästhetik gehört das „bis an die Grenze gehen“, das Ausreizen des instrumental-und ensembletechnisch Machbaren, aber auch des physiologisch und psychologisch Zumutbaren. Die Musiker der basel sinfonietta diskutierten jedenfalls, ob tatsächlich alle geplanten Folgeaufführungen dieses die Hörorgane strapazierenden „Allegro barbaro“ für Orchester stattfinden müssten. Wertmüller polarisierte im besten Sinn mit seinem Stück, vor allem aber machte er sinnfällig, dass Neue Musik und Symphonieorchester doch zusammengehören können. Verglichen mit vielem gut gemachten Auftragshandwerk auf diesem Gebiet, stellte er Konventionen, Traditionen und Schulen hintenan und unterwarf den Apparat seinem starken Ausdruckswillen.

Fritz Hauser brauchte für sein Stück „schraffur für Gong und Orchester“ keinen Dirigenten. Er setzte die Musiker der basel sinfonietta halbkreisförmig mit dem Scheitelpunkt zum Publikum. Mit Hauser als Stimmführer an den Gongs entlockten sie ihren Instrumenten ein zikadenartiges rhythmisches Scharren, das aus dem Pianissimo anwuchs und nach einem Kulminationspunkt wieder in dieses aufging. Ein magisches Stück Musik und ein faszinierendes Unikat, vergleichbar mit Ravels Bolero. Noch während des Festivals kamen die ersten Anfragen von Veranstaltern nach Folgeaufführungen.

Intensität, Konzentration und meditative Aura: Das sind alles auch Themen des arrivierten japanischen Komponisten Toshio Hosokawa, dessen Orchesterwerk „Woven Dreams“ zwei Wochen zuvor seine Uraufführung erlebt hatte. „Woven Dreams“ ist erneut ein Stück, in dem Hosokawa die für ihn typische Synthese japanischer und westlicher Kunst meisterlich gelungen ist. In feinen Pinselstrichen übertrug er Ideenwelten japanischer Kalligraphie und höfischer Gagaku-Musik auf den Orchesterapparat – als wäre japanische Musik schon immer für das Symphonieorchester geschrieben worden. Das Cleveland Orchestra unter seinem Dirigenten Franz Welser-Möst bedankte sich für Hosokowas Apotheose von Werden und Vergehen mit Detailgenauigkeit und inspirierter Interpretation.

Aus der Komponistengeneration der Mittdreißiger waren Rico Gubler, Stefan Wirth, Xavier Dayer und Cécile Marti mit Ensemblestücken für das Collegium Novum Zürich unter Michael Wendeberg vertreten. Besonders erwähnenswert war hier ein „Quasi“-Violinkonzert von Marti für die Geigerin Bettina Boller, deren Schülerin sie als junges Mädchen gewesen war.

Im Rahmen des Programms „trois femmes“, einem Teil eines Kulturprogramms „China 2008–2010“ von Pro Helvetia, brachte die Bratschistin Ana Spina Stücke von Xu Yi, Katrin Frauchiger und Michael Roth zur Uraufführung. Ihr gelang ein intimer Solo-Bratschen-Nachmittag, der seinen Höhepunkt in Gérard Griseys „Prologue für Viola solo. Posthume Version mit Live Elektronik“ (1976/2001) fand.

Gibt es nun das spezifisch Schweizerische in der Musik, das der Festivaltitel zu versprechen schien? Wurde analog zum politischen und wirtschaftlichen Sonderweg der Confoederatio Helvetica auch eine musikalische Identität spür- und hörbar? Diese Fragen sind auch nach zwei Tagen „(Z)eidgenössisCH“ nur schwer zu beantworten. Denn Schweizer Komponisten sind global tätig und international ausgebildet und lassen sich auch nicht in eine Folklore-Schublade packen, selbst wenn sie – im Gegensatz zu ihren deutschen Kollegen etwa – auf eine relativ intakte Folklore-Tradition zurückgreifen könnten. Ein auffallender Unterschied zu Musikszenen anderer Länder ist die Gewichtung der Improvisation, auch im Bereich der Lehre. Zahlreiche Musiker, die an den Musikhochschulen der Schweiz Improvisation unterrichten, sind zugleich klassische Komponisten: Walter Fähndrich, Urban Mäder, Thomas Mejer und Alfred Zimmerlin etwa, letzterer war mit mehreren Projekten bei „(Z)eidgenössiCH“ vertreten. Instant Composing und Improvisation sind in der Schweiz anerkannter als anderswo. Dennoch sollte man Improvisation und Komposition nicht miteinander verwechseln, betont Zimmerlin: „Spaziergehen ist eine Sache, Zeitung lesen eine andere. Es sind für mich zwei Methoden, um Musik zu machen, und Musik ist das Dritte. Das, was eigentlich das Ziel ist.“

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