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Der Knaben Götterdämmerung

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„Aus Tölz vertrieben“ titelte die SZ vor wenigen Tagen und verkündete, dass Gerhard Schmidt-Gaden seinen eigenen Nachfolger Ralf Ludewig als Leiter des Tölzer Knabenchores entlassen hat. Neben den völlig richtigen Anmerkungen zum allzu Menschlichen in Institutionen, die auf Personen bezogen groß geworden sind, schlägt Autor Michael Stallknecht in einem Nebensatz den Bogen zu einem Thema, das größer ist als eine der vielen Fehden, die zur Musikerszene gehören wie das Amen zur Kirche und die immerhin dafür sorgen, dass „man“ im Gespräch bleibt.

Da Ludewig die Neugründung des „Münchner Knabenchores“ ankündigt, verweist Stallknecht auf die allgemeine Krise bei den traditionellen Knabenchören. Großenteils dramatischer Nachwuchsmangel wird da völlig richtig festgestellt und zu ergänzen wäre, dass bei jedem Deutschen Chorwettbewerb wieder die Frage auftaucht, ob die Kategorie Knabenchöre nicht doch besser abgeschafft werden sollte. Nicht vergessen werden darf zuletzt das Stigma der wahlweise prügelnden oder pädophil belasteten Einrichtungen insbesondere im kirchlichen Dunstkreis – alles keine neuen Phänomene; aber doch immer wacher und kritischer wahrgenommen.

Und dann gibt es aber auch eine Aufbruchstimmung, von der zum Beispiel im Interview mit Hans Joachim Lustig (Chorknaben Uetersen) letztes Jahr an dieser Stelle zu lesen war (nmz 6/2013). Ganze Symposien beschäftigen sich mit singenden Jungs, sinnvoller stimmlicher Betreuung während der Mutation und nicht zuletzt der mancherorts höchst erfolgreichen Strategie der bewussten Geschlechtertrennung im Kinderchorbereich. Widersprüche? Sprechen wir da vom gleichen Phänomen?

Das Faszinosum Knabenchor kann und soll hier ebenso wenig erschöpfend behandelt werden wie all die problematischen bis verwerflichen Begleiterscheinungen. Bewusst gewählt allerdings ist die Überschrift, denn die Krise einiger Knabenchöre ist weniger eine demographische oder (musik)pädagogische, sie ist vor allem ein Teil der Krise der Kirchen. Kirchenmusik kann nicht reparieren, was an Vertrauen in die Kirchen verloren geht – Kirche kann aber sehr wohl eigene, sinnvolle und auch noch so gut arbeitende Einrichtungen durch Un-Glaub-Würdigkeit zerstören. Und über diese Dimension hinaus tut Erdung not. Denn die Begeisterung für gut oder hervorragend singende Buben und Männer, auch für den speziellen Klang, können und wollen sicher viele teilen. Aber der Mythos des singenden Knaben, der eigenartig zwischen Verklärung und Erotisierung dieser Gestalt schwebt, ist modernen Menschen zu Recht suspekt und stößt heute mehr ab, als dass er anzieht. Dies ist keine negative Entwicklung in unserer Gesellschaft, sondern nichts anderes als eine gesunde Reaktion. Eine Götterdämmerung im Sinne eines totalen Zusammenbruchs von Mythos und altehrwürdigen Einrichtungen müsste ja gar nicht sein. Aber tiefgreifender Wandel nicht nur in Äußerlichkeiten, sondern im hinter den Knabenchören stehenden Menschenbild ist das Gebot der Stunde, wenn eine wertvolle Tradition sich nicht überleben soll.

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