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Ende mit Paukenschlag: Ein Nachruf auf die WDR-Reihe „Ensembl[:E:]uropa“

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Nachschlag 2014/04
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Zuweilen hat man den Eindruck, die Neue Musik bestünde nur aus einem kleinen Kreis immer gleicher Akteure. In manchen Städten sowie bei vielen Festivals begegnet man ständig denselben Ensembles aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, den Benelux-Staaten, Frankreich, England und Skandinavien. Tatsächlich gibt es in diesen Ländern viele ausgezeichnete und sehr verschiedene Formationen. Doch in Wirklichkeit ist die Szene noch viel reicher und internationaler. Auch in allen anderen europäischen Ländern existieren Spezialensemble für Neue Musik, manchmal nur eines, oft gleich mehrere, die hierzulande nur noch nicht vorgestellt wurden. Die Konzertreihe „Ensembl[:E:]uropa“ des WDR Köln sorgte für Abhilfe. Über acht Spielzeiten mit durchschnittlich fünf Konzerten im Großen Sendesaal des Kölner Funkhauses gastierten seit September 2006 Ensembles aus ganz Europa, nicht nur den EU-Mitgliedsstaaten.

Neben bekannten Formationen aus großen Musiknationen erlebte man auch viele unbekannte Gruppen aus eher abseitigen Gefilden der musikalischen Landkarte. Denn zwischen Porto und Moskau gibt es nahezu überall hervorragende, auf Neue Musik spezialisierte Trios, Quartette, Kammerensembles und großbesetze Formationen, darunter „Alter Ego“ aus Rom, „BIT20“ aus Bergen, „Kwartludium“ aus Warschau, „Archaeus“ aus Bukarest, „Caput“ aus Island, „Windkraft Tirol“, „dissonART“ aus Thessaloniki (das in seiner Gründungsphase von Beat Furrer unterstützt wurde) sowie weitere aus Madrid, Sofia, Rom, Stockholm, Kiew, Litauen und Tschechien.

Die verantwortlichen Redakteure Frank Hilberg und Harry Vogt begriffen das neue Format – in Ergänzung zur WDR-Traditionsreihe „Musik der Zeit“ – als Angebot zur Horizonterweiterung, gerade auch für das Kölner Publikum und die Kölner Musikszene, wo man gerne zu selbstverliebter Nabelschau neigt. Will man nicht im eigenen Saft verschmoren, ist Austausch mit anderen Städten und Ländern unerlässlich. Die eingeladenen Formationen sollten sich daher zunächst einmal als sie selbst präsentieren, mit jeweils spezifischem Repertoire, Interpretationsstil, eigener Spielkultur, Stilistik und eigenen Konzertideen. Zudem wurde pro Konzert ein Komponist aus NRW mit einem neuen Werk beauftragt. Schließlich hatten manche Ensembles schon von sich aus mit dem einen oder anderen Komponisten zusammengearbeitet und sollten die Ensembles im Sinne wechselseitigen Austauschs das neue Stück des hiesigen Komponisten in ihre Heimatländer mitnehmen und dem dortigen Publikum bekannt machen.
Doch mit dieser weithin einzigartigen Konzertreihe ist jetzt Schluss.

Die Programmleitung von WDR3 will es so. Warum? Wie soll die Wirtschafts- und Finanzunion Europa endlich auch einmal kulturell zusammenwachsen ohne solche Austauschprogramme? Dem Kölner Publikum und den Hörern von WDR3 geht nun ein wichtiger internationaler Vergleichsmaßstab mit anderen Interpreten, Komponisten und Stilistiken verloren. Zwar stimmt, dass viele Konzerte schlecht besucht waren, doch wurden manche durch haus-interne Hindernisse auch viel zu spät annonciert. Natürlich hatten die vierzig verschiedenen Ensembles auch sehr unterschiedliche Qualität und Bühnenpräsenz. Und schließlich stimmt auch, dass sich die Stärke des Konzepts – die gastierenden Ensembles ihre jeweiligen ästhetischen Vorlieben und Profile zur Geltung bringen zu lassen – zuweilen auch als Schwäche entpuppte, weil auf diese Weise oft zu einseitige Programme entstanden. Dennoch überwogen die Verdienste der Reihe. Bei reduziertem Etat wird die bisher verantwortliche Redaktion Neue Musik zusammen mit der Redaktion von „WDR open“ fortan voraussichtlich nicht mehr in Köln, sondern über das gesamte Sendegebiet verteilt, weniger und andere Konzerte realisieren.

Eine der ältesten Formationen der Neuen Musik, die seit 1962 existierenden „Les Percussions de Strasbourg“, setzten jetzt mit dem gut besuchten 40. Konzert den Schlusspunkt der Reihe. Wo sonst ein ganzes Sinfonieorchester Platz findet, füllte nun das Schlagzeugsextett nicht minder klangmächtig und vielfarbig die Bühne mit zwei Meilensteinen der Emanzipation von Klang und Geräusch aus den 1930er- Jahren: Edgard Varèses „Ionisation“ und John Cages „First Construction in Metal“. Als Uraufführung folgte das pulsierende „Superstructure“ des 1966 in Köln geborenen Oliver Schneller. Und zum Schluss verlor sich das ganz auf Klangentfaltung konzentrierte „Tempus perfectum“ von Mark Andre in einem intensiven Nichts, als wär’s ein finaler Kommentar zum unumstößlichen Ende. In der Tat: Es hat einmal – tempus perfectum – eine WDR-Reihe „Ensembl[:E:]uropa“ gegeben. Und jetzt ist sie tot.
 

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