Hauptrubrik
Banner Full-Size

Fragilität und innere Stille

Untertitel
Sibelius zum 150. – die Gesamtausgabe der Klavierwerke bei Breitkopf ist komplett
Publikationsdatum
Body

Wenn es um Klaviermusik geht, fällt der Name Jean Sibelius praktisch nie. Dabei hat er hier ein umfangreiches Œuvre hinterlassen, das freilich fast durchgehend aus Miniaturen besteht. Diesen Stücken wird seit jeher vorgeworfen, sie seien pianistisch uninteressant und überwiegend banal musikantisch.

Ganz unschuldig ist Sibelius nicht am harten Urteil der Nachwelt, denn vor allem zwischen 1914 und 1921 (also zur Zeit der Symphonien 5 bis 7!) hat er viele Sammlungen unzähliger Walzer, Humoresken, Romanzen, Märsche und stilisierter Tanzsätzchen veröffentlichen lassen, denen bei aller untadeligen Qualität der Ausführung im Einzelnen doch ein bisschen der Geschmack einer Resteverwertung aus der verfeinerten Gourmetküche anhaftet. Tatsächlich wirkt zu dieser Zeit sein Eigenton oftmals reduziert, die Musik ist verhalten redselig zwischen Melancholie und Putzigkeit. Es sind Fingerübungen, Sammlungen kleiner Nichtigkeiten. Doch zur Mitte der zwanziger Jahre hin ist wieder eine Konzentration des Lauschens in die inneren Abgründe zu vernehmen, die die extreme Ökonomie und sparsame Innigkeit des anspruchsvolleren Anteils seines Spätwerks kennzeichnet. Hier lohnt sich die eingehende Erkundung wieder weit mehr.

Anders als die Gesamtausgaben anderer nordischer Meister wie Carl Nielsen oder Eduard Tubin kommt die Sibelius-Edition langsam voran, einige wenige Bände erscheinen pro Jahr, und dies ist klug, denn es wird präzise recherchiert und ausgebessert, es gibt keine vorschnellen Entscheidungen, und die Vorworte bestechen mit umfangreicher, detailgenauer Information. In der jetzt vollständigen, vierbändigen Gesamtausgabe der Klaviermusik bei Breitkopf & Härtel sind nicht die vielen Arrangements enthalten, die Sibelius von eigenen Orchesterstücken, überwiegend aus seinen Schauspielmusiken, vornahm. Stattdessen finden sich neben den zahlreichen seinerzeit erfolgreichen Sammlungen, die zwischen 1893 und 1929 komponiert wurden, und verstreuten Einzelstücken wechselnden Anspruchs, hier ein erstaunlich umfangreiches Spektrum von Jugendwerken sowie auch mehrere Stücke in alternativen Fassungen.

Am Beginn der offiziell von ihm freigegebenen Musik sind nicht nur die frühe romantische, einzige Klaviersonate op. 12 zu nennen, sondern vor allem die sechs Impromptus op. 5. Die zwei letzten dieser Stücke verwob Sibelius später zum Impromptu für Streicher, und daran wird schlagend offenbar, warum seine Klaviermusik keine Karriere machte: Es ist so unendlich wirkungsvoller, ergreifender, wenn es von einem Streichorchester ausgeführt wird, mit einem Mal entsteht ein suggestiver Bann, den ein Pianist mit der sparsamen, aufs pianistisch Bezirzende verzichtenden Musik kaum herstellen kann (obwohl die Gesamtaufnahme von Folke Gräsbeck bei BIS da schon Erstaunliches leistet).

Dasselbe lässt sich auch 1924 noch einmal beobachten, am Largo „Dorfkirche“ aus den fünf charakteristischen Impressionen op. 103, die dann ihre berückende Wiederauferstehung als Andante festivo für Streicher feiern sollte. Die stärkste Phase des Klavierkomponisten Sibelius folgt nach der heroischen Kylikki-Musik von 1904: die 10 Stücke op. 58 von 1909 (herausraged die Air varié), die wundervoll konzisen 3 Sonatinen von 1912 (am stärksten das Largo aus der 1. Sonatine), die 2 Rondinos op. 68, und auch die Stücke op. 74 und 75, wenngleich hier der Gehalt schon etwas durchwachsener ist. In seinen bes­ten Klavierstücken ist Sibelius ein zärtlicher Gigant, der vom Musiker Exegese der Entsagung, vollendete Hingabe und den ständigen Bezug zur Fragilität und inneren Stille forderts und ein tiefes Verständnis kollidierender Bezüge in archaisch erweiterter Tonalität.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!