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Geschichten aus feuchten Londoner Nächten

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Die dunkle Seite der „Swinging Sixties“: „Performance“ mit Mick Jagger
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 „Memo From Turner“ heißt einer der seltsamsten Songs aus der Jagger/Richards-Werkstatt der „satanischen“ Phase der Rolling Stones. Obwohl bereits 1968 entstanden, wurde dieses Gegenstück zu „Sympathy For The Devil“ erst im Herbst 1970 veröffentlicht, als erste Solo-Single von Mick Jagger. „Memo From Turner“ war das Herzstück des Soundtracks zu einem Film, der zwei Jahre lang bei Warner Bros. auf Halde gelegen war: „Performance“. 1970 noch von Kritik und Publikum abgelehnt, entwickelte sich die erste und einzige gemeinsame Arbeit von Nicolas Roeg („Wenn die Gondeln Trauer tragen“) und Donald Cammell bald in den angelsächsischen Ländern zum „Midnight Movie“, zum Kultfilm einer Generation.  

Jetzt gibt es dieses Artefakt aus einer „anderen Welt“ auch bei uns. Als „Special“ wollte uns die deutsche Dependance von Warner Home Video noch den USA-Kinotrailer schenken, aber der muss wohl während der DVD-Produktion im Nirwana verschwunden sein. Auf das exzellente „Performance“-Featurette der amerikanischen Ausgabe müssen die deutschen Fans sowieso verzichten. Dafür gibt es als Bonus die sehr dumpfe deutsche Mono-Tonspur. 

„Performance“ erlebte seit dem Selbstmord des Kultur-Dandys Cammell im Jahre 1996 ein seltsames Comeback. Einige Kritiker bezeichnen dieses „Rock Movie“ als den einflussreichsten britischen Film seit der Ära von Michael Powell & Emeric Pressburger, deren komplettes Werk zur Zeit im Münchner Filmmuseum zu sehen ist. Lange vor Quentin Tarantino „erfanden“ Autor Cammell und Kameramann Nicolas Roeg die nichtlineare filmische Erzählung.

Wer versucht, den Plot dieses wahnwitzigen Gangster- und Pop-Movies nachzuerzählen, muss scheitern. Selbst die Macher dieses Films über die „dark side“ des Swinging London der Sixties können es nicht. Benannt werden aber immer wieder die literarischen Einflüsse von Cammell: Genet, Artaud und Borges. Ursprünglich wollte Donald Cammell Marlon Brando als dritten Mann im Bunde haben. Der aber weigerte sich und so wurde „Performance“ zum Vehikel für Mick Jagger und den aristokratischen James Fox. Es geht um „Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll“ im Zwischenreich von Halbwelt und Pop-Business. Auf merkwürdige Weise „verarbeitete“ damals Cammell die „Realität“ seiner Protagonisten in diesem Film-Rausch aus „Sound & Vision“. Marianne Faithfull erinnert sich in ihrer Autobiografie an einen „flotten Vierer“ mit Jagger, Fox und seiner androgynen Freundin Andee: „Natürlich wusste niemand von unserem netten Beisammensein, keine Menschenseele. Aber irgendwo draußen in der feuchten Londoner Nacht muss der Chefdracula der Szene, der Regisseur Donald Cammell, sein Fenster geöffnet und es aus der Luft aufgeschnappt haben. Er begriff alles intuitiv. Er spürte es, ich bin sicher, viele Leute spürten es. Ohne dass er wusste, was in der Nacht passiert war, erschuf er es in ,Performance‘ neu.“

Wobei Jagger-Freundin Faithfull schon vor den Dreharbeiten London verlassen hatte: „Schon vor dem ersten Drehtag war ,Performance‘ ein brodelnder Kessel teuflischer Zutaten: Drogen, inzestuöse Beziehungen, Rollentausch, Kunst und Leben wild durcheinandergequirlt zu einem Hexengebräu.“ Sie ahnte, was passieren würde. „Das Komische war nur, dass außer mir es keiner sah.“ Als „psychosexuelles Versuchslabor“ unter der Leitung von Cammell hat Faithfull „Performance“ bezeichnet. Und das Versuchskaninchen hieß James Fox. „Was passiert, wenn man einen verklemmten Upperclass-Engländer mit einem Haufen psychedelischer Drogen vollpumpt, ihn manipuliert und halb um den Verstand bringt?“ 

Richards-Freundin Anita Pallenberg, die schon mit dabei gewesen ist bei Volker Schlöndorffs wildem „Mord und Totschlag“-Melo, war die Frau im Männerclub. Sehr freizügig erinnert sie sich an die Eifersüchteleien von Richards während der Dreharbeiten. Irgendwie schien damals im Sommer ’68 alles aus dem Ruder gelaufen zu sein. Als Nicolas Roeg, der gerade als Kameramann Richard Lesters Los-Angeles-Film „Petulia“ verdedelt hatte, und Donald Cammell ihren Film dann den Warner-Chefs vorstellten, waren diese entsetzt. Und so verschwand „Performance“ zwei Jahre lang in der Versenkung. Erst ein Jahr nach dem „Altamont“-Mord und dem Tod von Brian Jones kam „Performance“ dann in die Kinos. Visionär hatten Cammell und Roeg mit Jump Cuts die Katastrophen vorausgesehen, die folgen sollten. Schon der abgehalfterte Rockstar Turner war ein Mischwesen gewesen, von Brian Jones und Keith Richards, den Antipoden bei den Stones. Als verlebten Prinzen von Dänemark hat ihn Marianne Faithfull gesehen. Als Hamlet der späten Sixties. Mick Jagger dagegen habe nichts Mythisches oder Tragisches an sich: „Er ist zu normal, als dass ihm überhaupt ein tragisches Schicksal widerfahren könnte.“ Und so hat Mick Jagger überlebt. Als Springteufelchen war der einstige Rock-Satan zuletzt bei Martin Scorsese auf der Leinwand zu erleben, als ewig junger Greis, der ewig tanzen muss auf den Bühnen der Welt.

 

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