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Gewichtiger Materialstand

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Das endlich vorgelegte Zimmermann-Werkverzeichnis kann Impulsgeber der Forschung sein
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Unter den bedeutenden Komponisten des 20. Jahrhunderts gehört Bernd Alois Zimmermann zu jenen, deren Schaffen in den letzten zwei Jahrzehnten ein stark gewachsenes Interesse nicht nur des Musiklebens und der nachwachsenden Generationen von Komponisten, sondern auch von musikwissenschaftlicher Seite verbuchen konnte.

Dies hat außer mit der Faszinationskraft dieses Schaffens gewiss auch mit der Tatsache zu tun, dass sich unter den wichtigen Werken des Komponisten etliche finden, die weit davon entfernt sind, Gattungskonventionen zu beherzigen, und sich mit großer Emphase auf die Konstituierung neuer Zusammenhänge einlassen. Schon die bloße Beschreibung und Deutung der komplexen Ästhetik von Zimmermanns Werken, zu denen manche enigmatische Setzungen gehören, kann eine spannende Aufgabe sein. Hierzu trägt bei, dass Zimmermanns Schaffen gerade in seinen über den Rahmen der Konzertmusik hinausweisenden Momenten auf vielfältige Weise mit Darstellungs- und Reflexionsformen anderer Künste verbunden ist. In einer Zeit, da auch die Musikwissenschaft längst kulturwissenschaftliche Betrachtungswege als relevant akzeptiert hat, erkannte man in Zimmermann einen der interessantesten Repräsentanten jenes Teils der musikalischen Avantgarde, der in besonderer Weise durch den Rückgriff auf bereits verfügbares Material gekennzeichnet ist – womit sich manche von Zimmermanns Zeitgenossen zunächst schwer taten.

Trotz dieser insgesamt günstigen Gesamtlage der heutigen Zimmermann-Rezeption versteht es sich, dass ein erhebliches Maß jener Forschungsarbeit, die auf eine wirkliche Tiefe der Auseinandersetzung zielt, auch und gerade der Quellenarbeit bedarf. Bekanntlich sind besonders in der Musik nach 1950 manche kompositorischen Raffinessen erst dann adäquat zu erfassen, wenn man das Skizzenmaterial zu Rate zieht. Und im Falle Zimmermanns hat die Forschung das beträchtliche Glück, dass sein Nachlass erstens sehr umfangreich und aussagekräftig ist und zweitens an einem jener Orte zugänglich gemacht wird, die sich in exzellenter Weise um Hilfestellungen für musikwissenschaftliche Forschungen bemühen, nämlich im Musikarchiv der Berliner Akademie der Künste.

Dieses Archiv beziehungsweise sein Mitarbeiter Heribert Henrich hat nun mit dem stattlichen Werkverzeichnis zu Zimmermann eine detaillierte Handreichung vorgelegt, die im Rahmen der Forschung zur Neuen Musik nach 1950 wohl ihresgleichen sucht. Schon der Umfang dieses Bandes ist mit 1326 Seiten bemerkenswert. Er ergibt sich einerseits aus der Tatsache, dass man dem Zimmermann’schen Werk bis in die kleinsten Verästelungen nachgegangen ist; breiten Raum nehmen auch die Bearbeitungen und andere eher marginale Arbeiten ein. Aber es hat andererseits mit der gewiss begrüßenswerten Tatsache zu tun, dass zu jedem Werk, zumindest in Ausschnitten, auch die relevanten Briefe veröffentlicht werden, sofern diese nicht schon andernorts publiziert wurden. Dies ist schon deshalb hilfreich, da Zimmermann zu jenen Komponisten gehört, die in brieflichen und privaten Äußerungen weit offener und konstruktiver Auskunft über ihre konzeptionellen Ideen gaben als in den der Öffentlichkeit zugewandten Darlegungen, bei denen er, akribisch bedacht auf das Herauskristallisieren der eigenen historischen Position (die zu seinen Lebzeiten noch umstritten war), nicht selten entweder übervorsichtig oder übertrieben selbstbewusst argumentierte.

Henrich, der neben anderen Tätigkeiten nahezu zwei Jahrzehnte seiner Arbeit als Archivar im Zimmermann-Nachlass diesem stattlichen Werkverzeichnis widmete, musste zwar nicht bei Null anfangen – es gab Vorarbeiten von Klaus Ebbeke, der einst wesentlich an der Gründungsphase des Berliner Zimmermann-Archivs beteiligt war. Doch da Henrich dieses Verzeichnis auf eine möglichst breite Quellenbasis zu stellen suchte, hat er sich über die Jahre – und sehr erfolgreich – darum bemüht, möglichst alles relevante Material zusammenzutragen, das auf eine Vielzahl von Freunden und Kollegen des Komponisten verteilt war. Wie akribisch und ehrgeizig er dabei operierte, wird daran ersichtlich, dass er jene 10 (von insgesamt ca. 300) Werkbeschreibungen zu Frühwerken, die sein Vorgänger um 1990 erstellte, späterhin noch gründlich revidieren oder sogar ganz neu fassen musste, weil sich jeweils neue wichtige Quellenfunde ergaben. Verändert hat Henrich das damals von Ebbeke vorgelegte Grundkonzept vor allem darin, dass er jegliche Hierarchisierung innerhalb des Gesamtbestands der Kompositionen aufhob. Dies konvergiert mit neueren kulturwissenschaftlichen Standards und verspricht einen Impuls auch für die verstärkte Auseinandersetzung erstens mit jenem Teil von Zimmermanns Schaffen, der für ihn als Broterwerb und zum Teil auch als Experimentierfeld für sein „eigentliches“ Komponieren diente, und zweitens mit dem Frühwerk.

Das Bild von Zimmermann ist heute längst nicht mehr, wie in der Anfangszeit der Forschung zu diesem Komponisten, von Klischees, Einseitigkeiten oder ästhetischen Debatten zu Fortschritt und „Materialstand“ der Neuen Musik überlagert – spätestens der 2005 vorgelegte Band der Reihe „Musik-Konzepte“ zeigt die Substanz von Zimmermanns Musikdenken wie auch der Forschung zu ihm auf. Aber gerade dort, wo es noch empfindliche Lücken bei der Beschreibung, Analyse und Interpretation von Zimmermanns Schaffen gibt (eine gewichtige Monographie ausgerechnet zur epochalen Oper „Die Soldaten“ steht einstweilen noch aus), kann dieses Werkverzeichnis eine überaus willkommene Hilfestellung bieten.

Heribert Henrich: Bernd Alois Zimmermann Werkverzeichnis. Verzeichnis der musikalischen Werke von Bernd Alois Zimmermann und ihrer Quellen, erstellt unter Verwendung von Vorarbeiten von Klaus Ebbeke, Akademie der Künste/Schott, Berlin/Mainz u.a. 2013, 1326 S., Abb., € 199,00, ISBN 978-3-7957-0688-3

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