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Multimedial: Arthur Kampelas Komposition „…B…“. Foto: Kai Bienert/Mute Souvenir
Multimedial: Arthur Kampelas Komposition „…B…“. Foto: Kai Bienert/Mute Souvenir
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Im Zeichen der deutsch-französischen Beziehungen

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Zum Neue-Musik-Festival Ultraschall in Berlin 2013 · Von Barbara Eckle
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Brüderschaft und Verbrüderung stehen in der Kultur schon lange hoch im Trend und werden gerne – besonders bei aktuellem Anlass – als musikdramaturgische Rahmenstifter bemüht. Leicht kann dabei auch der Eindruck entstehen, man verspreche sich daraus eine Form von notwendiger Rechtfertigung der Musik, ein Attestat ihrer Relevanz, die eigentlich selbstverständlich ist – oder zumindest sein sollte; denn was ist die Bedeutung eines bestimmten Werks innerhalb und was außerhalb eines solchen dramaturgischen Kontextes? Diese Frage taucht immer wieder auf beim Gang durch die diesjährige Ausgabe des Festivals Ultraschall, das seinen Hauptschwerpunkt anlässlich des vor genau 50 Jahren geschlossenen Elysée-Vertrags ins Zeichen der deutsch-französischen Beziehung gestellt hat.

Innerhalb dieses Rahmens allerdings ist den Veranstaltern Rainer Pöllmann (Deutschlandradio Kultur) und Margarete Zander (RBB) eine differenzierte und perspektivenreiche Auflösung des Themas in seine verschiedenen Einzelaspekte gelungen, die das weite Feld so undogmatisch wie unentschieden ausleuchtet: Nicht nur verschiedene Generationen französischer und frankophiler deutscher (und nicht-deutscher) Komponisten kommen zu Gehör; auch spielt das Elsass als geographisches Symbol für den deutsch-französischen Konflikt eine Rolle, Profilstudien der führenden elektronischen Studios beider Länder geraten in den Fokus, und nicht zuletzt stellt sich die unumgängliche Kernfrage: Was bedeutet denn die deutsch-französische Aussöhnung heute?

Kuratorisch raffiniert, wenn auch musikalisch auffällig reibungslos, gestaltet sich der Festivalanfang mit dem Kammerensemble Neue Musik Berlin: Formverliebte Traditionsaffinität bestimmt die ästhetisch makellose, nahezu gefallsüchtige Komposition „Trio Rombach“ von Pascal Dusapin, einem der etabliertesten französischen Komponisten seiner Generation. Das Trio „L’usage de la parole“ von Franck Bedrossian und „Tombeau in memoriam Gérard Grisey“ für Klavier und Schlagzeug von Philippe Hurel legen indes Zeugnis ab von der ungeheuren Wirkung, die Grisey und die Spektralästhetik auf die nächst-jüngere Generation französischer Komponisten gehabt hat. Die Gegenüberstellung der beiden Werke lässt sehr individuelle Arten des Umgangs mit dieser Inspirationsquelle erkennen. So bilden die intensive, stark kontrollierte Spannungsdynamik in Bedrossians Werk und der frei atmende Bogen innerhalb einer klanglich ganz in sich abgeschlossen Welt bei Philippe Hurel eklatante Kontraste, wobei ein scharfes Bewusstsein für Sauberkeit, Schönheit und das rechte Maß alle drei Komponisten wiederum zu verbinden scheint. Abgründe und Baustellen verziehen sich angesichts solch prononcierter Ästhetik in den Hintergrund. Als klangsinnliche Brücke zum großen Ensemblestück „Antropofagia“ des brasilianischen Komponisten und E-Gitarristen Arthur Kampela stellt sich das Werk „d’après“ der in Paris ausgebildeten Italienerin Clara Iannotta zur Verfügung – beide Komponisten sind zur Zeit Stipendiaten des Berliner Künstlerprogramms des DAAD, mit dem Ultraschall regelmäßig kollaboriert. Die erweiterte Klangpalette, die Iannota mit konventionellen und unkonventionellen Instrumenten (Fahrradschläuchen etc.) in „d’après“ fast zärtlich abmischt, ohne das Abkippen in eine assoziative Welt zuzulassen, konditioniert das Ohr für den Einbruch einer gigantischen, doch reichlich konkreten, tropischen Klangkulisse in „Antropofagia“ für E-Gitarre und großes Ensemble. Kampela schafft hier mit seinem Klangnaturalismus einen akustischen Raum, in den sich die E-Gitarre ihren eigenen elektronischen Raum höhlt: Zwei gegensätzliche Welten wachsen hier erstaunlich organisch zusammen und lassen in ihrem Sinn für Klangoberfläche, trotz aller stilistischer Gegensätzlichkeit, eine Linie durch das Programm zurückverfolgen.

Der fundamentale deutsch-französische Gegensatz von Föderalismus und Zentralismus ist für die jeweiligen Musikszenen von nicht geringer Tragweite. Was jedoch die elektronische Musik betrifft, so gravitieren beide Länder um ihr Zentrum: IRCAM in Paris und das SWR-Experimentalstudio in Freiburg. Wohl hauptsächlich des symbolischen Aktes wegen vereinen hier die zwei konkurrierenden Forschungslabore erstmals und ausnahmsweise ihre Kräfte in dem vom Arditti Quartett uraufgeführten Streichquartett mit Elektronik „La Quinta“ von Joshua Fineberg. Die nicht ganz leicht zu beantwortende Frage, wie die eigene Handschrift eines elektronischen Studios zustandekommt, lässt sich bei einem Werk wie Philippe Manourys Streichquartett mit Elektronik „Tensio“ zumindest ansatzweise erahnen: Das über mehrere Jahre hinweg entstandene Stück ist in seinen kompositorischen und spieltechnischen Entwicklungsschritten mit der fortschreitenden technischen Realisierbarkeit quasi symbiotisch verbunden. Das zeigen eindrücklich die verschiedenen Phasen, die das Quatuor Diotima in „Tensio“ durchläuft. Nicht ohne Faszination hört man sich in den Grenzbereich des technisch Möglichen hinein, um nachzuvollziehen, wie die verkabelten „Forschungsobjekte“ zusehends die musikalische Kontrolle an eine übermenschliche Macht verlieren, die sie transformiert und dosiert wieder verabreicht.

Einen wohltuend archaischen Gegenpol zum Systemischen dieser Komposition stellt Iris ter Schiphorsts „dead wire“ für Klavier und Elektronik dar, eine Art solistisches Heldenstück, in dem der Pianist Christoph Grund, während er auf dem Flügel spielt, über zwei weitere Keyboards die Live-Elektronik steuert, Töne mikrotonal verändert und gleichzeitig durch Zuspiel mit sich selbst in ein hochgeladenes, hochkomplexes Zwiegespräch tritt – eine im Stück angelegte mentale und psychische Überforderung, die sich immer wieder in gewaltig brüllenden Stimmlauten entlädt. Ergreifende, viszerale elektroakustische Musik, in der sich Urtümlichkeit und Maximalkapazität des Menschen in eindrücklicher Weise begegnen.

Ein Fragezeichen steht neben dem Höhepunkt des franko-allemannischen Festival-Schwerpunkts. Nach zahlreichen Ansprachen französischer und deutscher Staatsrepräsentanten am Vorabend des Elysée-Vertragsjubiläums harrt man des Auftragswerks „Après tout“ (dt. „nach all dem“) von Fabien Lévy, die feierliche Stimmung bleibt an diesem Abend an der Volksbühne allerdings aus. Man ahnt, was kommt: unverjährte Betroffenheit, wortreich, klangvergessen. Alles andere wäre unangebracht. Intelligente Programmdramaturgie rettet den schwierigen Abend: Sie flankiert Lévys Werk zur Linken mit Stockhausens „MENSCHEN, HÖRT“ für Vokalsextett, eine raumübergreifende Vision von Verbrüderung in Form eines klanglich-kosmischen Aufgehens. Als Träger der Planeten durchschreiten die Neuen Vocalsolisten Stuttgart den Raum, verlassen ihn singend, dehnen ihn klanglich ins Unendliche aus und lassen uns darin zurück. Alleine? Im Gegenteil. Zu Lévys Rechten wiederum saust Christoph Ogiermanns Parole wie ein Fallbeil auf die empfindlich betretene Stimmung herab. Elektronisch harsch verhackte, verzerrte, aus allen Ecken gebrüllte Floskeln wie „Ist ja auch Teil meiner eigenen Geschichte“ stellen die Wirkung öffentlicher Weichenstellungen angesichts privater Selbstermächtigung in Frage. Kein Wunder, dass sich der eine oder andere die Ohren zuhält – und dadurch quasi zum Anschauungsobjekt der „ogiermannschen These“ wird.

Der Trend, sich über unkonventionellere Veranstaltungsorte der Stadt auszubreiten, hat sich mittlerweile auch bei Ultraschall definitiv durchgesetzt: Weniger bürgerlich-stigmatisierte Spielstätten wie Berghain, Tempodrom und FritzClub sollen helfen, die neue Musik aus ihrer elitarisierten Stellung zu befreien. Keine Frage: der Szenenwechsel tut einem zehntätigen Festival gut. Neues oder gar junges Publikum garantiert ein neues Gehäuse jedoch nach wie vor nicht, besonders wenn darin Programme gespielt werden, wie man sie aus Konzertsälen kennt. Beim Konzert des Ensemble Modern im FritzClub ist es ironischerweise gerade die historische Dimension von Luciano Berios Werk „Differences“ für fünf Instrumente und Tonband von 1959, die eine besondere Ausstrahlung an den Tag legt: rohe, elementare Elektronik aus den Tagen, als sie eine bahnbrechende Errungenschaft war, besticht im instrumentalen Zusammenspiel den heutigen Hörer mit einem existentiellen Unterton, der heute kaum reproduzierbar wäre.

Zieht sich auch eine latent didaktische Tendenz durch die zweite Festivalhälfte, so gilt es hier doch zu erkennen, dass die vielen historischen Rückbezüge einem potentiell neuen Publikum die Tür tatsächlich weit aufhält. Von Exklusivität keine Spur beim ganztägigen Programm „piano plus“ im Radialsystem. Viel zu selten bietet sich etwa die Gelegenheit, an Schönbergs sämtlichen Klavierwerken den Schritt zur Zwölftonmusik prozessual nachzuvollziehen, noch seltener in so greifbarer Plastizität wie in Pi-Hsien Chens Spiel. Wie präsent Schönbergs abstraktes Konstrukt auch hundert Jahre später noch ist, verdeutlicht die Nebeneinanderstellung der konkret bildhaften Musik aus dem Zyklus „My Window“ des zeitgenössischen chinesischen Komponisten Lei Liang. Heldenhaft bestreitet auch das begabte junge Klaviertrio Catch seinen Dauereinsatz an diesem Tag und verschwindet zum Schluss gleichsam in Mark Andres Werk „...als 1 ...“ . Leises, ausgedehntes Kratzen, Schlürfen und Pochen auf den drei im ganzen Raum verteilten Instrumenten lässt glauben, die Musik bestehe nur noch aus langen Atemzügen – fesselnde Hyperpräsenz ist das faszinierend paradoxe Ergebnis dieser konsequenten Reduktion.

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