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Setzte der Mahnkopf-Kritik die Insel-Metapher entgegen. Christoph Khittl bei seinem Grazer Vortrag. Foto: Bernhard Gritsch
Setzte der Mahnkopf-Kritik die Insel-Metapher entgegen. Christoph Khittl bei seinem Grazer Vortrag. Foto: Bernhard Gritsch
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Mit Pluralität den Blick weiten

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Impulse aus der Novembertagung der Musikpädagogischen Forschung Österreichs
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Vom 12. bis 13. November 2015 fand an der Kunstuniversität Graz die sechste Tagung der Musikpädagogischen Forschung Österreichs (MFÖ) statt. Die Veranstaltung stand unter dem thematischen Schwerpunkt „Anything goes? Orientierung in der Pluralität musikdidaktischer Konzeptionen im Kontext von Musik-, Instrumental- und Gesangsunterricht“ und vereinte Vertreterinnen und Vertreter der schulischen Musikpädagogik ebenso wie Instrumental- und Gesangspädagoginnen und -pädagogen. Zentrales Anliegen der Tagung war es, vorliegende musikdidaktische Konzeptionen aus historischer, soziologischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive zu beleuchten und den Diskurs zwischen schulischer und außerschulischer Musikpädagogik zu intensivieren.

Während für den schulischen Musikunterricht seit etwa fünfzig Jahren musikdidaktische Konzeptionen auf wissenschaftlicher Ebene entwickelt und diskutiert werden, hat die Instrumental- und Gesangspädagogik erst später begonnen, vergleichsweise wenig kohärente, wissenschaftlich fundierte und handlungsanleitende Vorgaben zum instrumentalen (und vokalen) Musiklernen zu erarbeiten.“ Wodurch lässt sich diese in der Tagungsankündigung proklamierte instrumental- und vokalpädagogische Scheu vor didaktischer Konzeptionsbildung begründen? Sind Konzeptionen der schulischen Musikpädagogik vielleicht zu engmaschig für einen individuell gestaltbaren Instrumental- und Vokalunterricht? Diesem Vorwurf ging Peter Röbke in seinem Vortrag „Von der ‚natürlichen‘ Scheu der Instrumentalpädagogik vor didaktischer Konzeptionsbildung“ nach: Es geht um individuell zu gestaltende Lernwelten, um Ermöglichungsdidaktik, um die Bedeutung sozialer Interaktionen und informeller Räume für das Musiklernen. Ebenso wird die Bedeutung von durch die Schülerinnen und Schüler autonom gestalteten Lern- und Erfahrungsräumen sowie die Relevanz des „wilden Lernens“ erörtert. Die zu Beginn erwähnte Zurückhaltung der Ins-trumental- und Gesangspädagogik lässt sich damit nicht mehr nur als Scheu, sondern auch als besonnene Zurückhaltung interpretieren.

Christoph Khittl eröffnete die Tagung als Keynotespeaker mit seinem anregenden und prägenden Vortrag „Musikpädagogik: Vom ‚Anything Goes‘ über disziplinloses Durcheinander zur (anthropischen) ‚Trans-Disziplin‘“. Dabei spürt er dem Wesen der Musikpädagogik nach, die nach Ansicht von Mahnkopf nicht einmal eine eigene Fachdisziplin darstellt. Wissen(schaft), so auch die Musikpädagogik, sei insulär und archipelagisch, die die Wissenschaft prägenden und konstituierenden Diskurslogiken nicht zwingend verein- und vergleichbar (wissenschaftstheoretisch korrekt mit Inkommensurabilität beschrieben). Doch gleich den Inseln sind die musikpädagogischen Diskurslogiken doch zweifach miteinander verbunden: Zum einen durch das Wasser, das sie umgibt, zum anderen durch den Untergrund, der sowohl Wasser, als auch Inseln „trägt“. Mit Schatt lässt sich Musikpädagogik so als eine Fülle von Inseln beschreiben, die nur zusammenhängen, weil sie sich auf dasjenige beziehen, was wir uns als Musik zu bezeichnen angewöhnt haben. Demnach wäre der eben beschriebene Boden die Musik und die im Zentrum der Tagung stehende Frage nach didaktischen Konzeptionen mit dem Inselbild zu beantworten: Didaktische Konzeptionen sind möglicherweise einzelne Inseln oder zusammenhängende Inselgruppen des großen musikpädagogischen Archipels.

Integrieren statt isolieren

Norbert Schläbitz dekonstruierte in seinem Beitrag die Vorstellung der westlichen Bildungsphilosophie, die Vermittlung eines Kanons würde in einer pluralisierten Gesellschaft Orientierung liefern. Die Idee der zweckfreien Bildung an ausgewählten Bildungsgütern ist nach Schläbitz der reinen Fantasie geschuldet. Humboldts neu-humanistische Bildung, aber auch Schillers ästhetische Erziehung böten keine ethisch vertretbare Gesinnung, sondern generierten – im Zuge der Überhöhung eigener Kulturgüter – die Ignoranz, Arroganz und zuletzt die Missachtung derer, die anderes schätzen. Pluralisierung dagegen hebe die eindimensionale Sicht auf und weite den Blick für das Anderssein. Der aktuell zunehmende Entdifferenzierungsprozess ist demnach als Chance zu verstehen. Unter der Formel „nicht isolieren, sondern integrieren“ stellte Schläbitz auch ganz konkret ein musikpädagogisches Konzept vor: „O-Ton“, ein Schulbuch für den Musikunterricht ab Klasse 5.

Ilka Siedenburg erläuterte in ihrem Vortrag, dass Popmusik während der vergangenen Jahrzehnte in Deutschland in der instrumentalpädagogischen Praxis kontinuierlich an Bedeutung gewonnen hat. Popularmusikbezogene didaktische Ansätze wurden weitgehend aus der Praxis heraus entwickelt, geprägt vom musikalischen Hintergrund der jeweiligen Instrumentallehrkräfte. Demgegenüber finden theoretische Reflexionen erst in jüngerer Zeit statt. In einem Vergleich zweier Ausgaben von Üben und Musizieren zum Thema Pop zeigt sich, dass im Jahr 2004 die Legitimation des Gegenstands, die Frage der „Lehrbarkeit“ und die Entwicklung von Curricula im Mittelpunkt standen. In der Ausgabe von 2014 widmen sich die Beiträge Themen wie den zum Spielen von Popmusik erforderlichen Kompetenzen oder der Bedeutung des Lernens im Team. Diese Akzentverschiebungen lassen sich durch ein verändertes Praxisfeld, aber auch durch die zunehmende Rezeption internationaler Forschungsergebnisse und die Orientierung an jüngeren Theorien zur Beschreibung von Lernprozessen erklären. Siedenburg erläutert, dass insbesondere konstruktivistische Ansätze sowie das Modell des „situated learning“ von Lave/Wenger im Hinblick auf die Popdidaktik aufgegriffen wurden.

Magdalena Krinner stellte eine qualitative Studie vor, in der untersucht wird, welche berufsspezifischen kognitiven und affektiven Einstellungen bei Instrumental- beziehungsweise Gesangspädagogikstudierenden typisch, und welche Einflussfaktoren für berufsspezifische Einstellungen verantwortlich sind. So kann angenommen werden, dass Persönlichkeitsmerkmale wie Extraversion und Gewissenhaftigkeit, eine intrinsisch geleitete Berufswahlmotivation und Interesse an pädagogischen Themen die Identifikation mit dem Berufsfeld der Instrumentalpädagogik positiv beeinflussen und Entwicklungen in diesem Bereich bereits während des Studiums begünstigen. Extrinsische Studienwahlmotivation, die Studienwahl aus rein pragmatischen Gründen sowie Neurotizismus beeinflussen die Entwicklung der Studierenden und deren Studien- und spätere Berufszufriedenheit negativ.

Bernhard Gritsch und Jürgen Pretsch stellten ein neues, umfangreiches und aufwändiges Aufnahmeverfahren zur in Österreich gesetzlich verpflichtenden Überprüfung der pädagogischen Eignung für Lehramtsstudien vor, das in einem Zusammenschluss mehrerer Universitäten und Pädagogischer Hochschulen in drei Modulen (Online-Self-Assessment, standardisierte Computertestung und Face-to-Face-Assessment) entwickelt wurde. Im Modul Computertestung werden etwa kognitive Lernvoraussetzungen, sozial-kommunikatives Verhalten, Leistungs-, Gesundheits- und Erholungsverhalten, die Sprachkompetenz Deutsch, die Wahrnehmung von Emotionen, die Emotionsregulation und die Kreativitätserkennung getestet. Die siebenteilige Testbatterie (zeitlicher Umfang zur Bearbeitung ca. 3,5 Stunden) entspricht standardisierten Persönlichkeitstests. Im Besonderen gingen Gritsch und Pretsch der Frage nach, inwieweit sich Bewerberinnen und Bewerber, die ein mehrjähriges musikalisches Training hinter sich haben, in den Merkmalen Emotionswahrnehmung, Emotionsregulation und Kreativitätserkennung von den übrigen Lehramtsbewerbern unterscheiden. Bisher ergab sich lediglich im Bereich der Kreativitätserkennung ein signifikant besseres Abschneiden. Geplant ist, noch andere Merkmale zu untersuchen, die einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn im Bereich von Transfereffekten musikalischer Ausbildung liefern sollen. Mithilfe dieses Verfahrens erfolgte in den letzten beiden Jahren eine Negativselektion von 13 Prozent der Studienbewerber, denen eine mangelnde pädagogische Eignung nachgewiesen werden konnte.

Enthusiasmus und die Folgen

Brigitta Barandun berichtete über die in ihrer empirischen Studie ermittelten Ausprägungen und Formen von Enthusiasmus und zeigt auf, dass die Begeisterung der Lehrkraft besonders in der Instrumental- und Gesangspädagogik eine bedeutende Rolle spielt. Dabei drückt sich der Lehrenden-Enthusiasmus in spezifischen persönlichen Eigenschaften, der Vermittlungsweise sowie einer in der Regel intensiven Beziehungsgestaltung aus. Die Studie zeigt, dass sich Unterricht von begeisterten Lehrkräften häufig als losgelöst von didaktischen Konzeptionen erweist, Schülerinnen und Schüler jedoch in besonderem Maße anspricht und  häufig zu außerordentlichen Lernprozessen führt. Jedoch besteht bei diesen Lehrkräften auch die Gefahr, dass Lernende überfordert oder eingeengt werden, dass bestimmte Grundlagen nicht systematisch vermittelt werden oder Abhängigkeiten zwischen Lernenden und der Lehrkraft entstehen.

Der Vortrag von Susanne Dreßler befasste sich mit Strukturmerkmalen eines problemorientierten Musikunterrichts. Hierbei wurden zum einen theoretische Grundlagen zum Problemlösen innerhalb des Musikunterrichts erörtert, wie etwa die definitorische Bestimmung von „Problem“ auch in Abgrenzung zu einer „Aufgabe“, die Gestaltung einer problemhaltigen und motivierenden Lehr-Lernsituation oder die Beschreibung von verschiedenen Problemarten. Zum anderen wurde eine problemorientierte Unterrichtseinheit zum Thema „Modenschaumusik“ vorgestellt: Die Schülerinnen und Schüler hatten hierbei die Aufgabe, zu einer im Internet offiziell zugänglichen Modenschau, die für die Unterrichtseinheit gekürzt und ohne Tonspur präsentiert wurde, eine neue, eigene Modenschaumusik in Gruppenarbeit zu gestalten. Dafür konnten sie zwischen drei Gestaltungsmöglichkeiten wählen, die auch Musikproduzenten üblicherweise zur Wahl vorliegen: a) Live-Musikproduktion, b) Erstellen einer Compilation oder c) Komposition einer ganz eigenen Musik mit Musiksoftware. Diese Unterrichtseinheit wurde im Rahmen einer qualitativ-empirischen Forschungsstudie durchgeführt. Im Zuge dessen konnte rekonstruiert werden, dass SchülerInnen in einem problemhaltigen Setting selbstständig musikspezifische Probleme identifizieren, wie etwa die Passung zwischen dem Thema der präsentierten Mode und der Gestaltung einer musikalischen Stimmung oder die Passung zwischen dem Laufschritt der Models zum Beat der Musik. Haben sich die Schüler diesen identifizierten Problemen gestellt, so zeigte sich dem Team um Dreßler, dass die Lernenden gruppenübergreifend einen ähnlichen Problemlöseprozess durchlaufen. Dieser lässt sich durch einen Wechsel von markanten Schaltstellen einerseits (Problemkonfrontation, Erfolgserlebnis und Produktveröffentlichung) und unterschiedlich intensiven Ausprägungen von Involviertheit der Lernenden in den Prozess andererseits beschreiben.

Alternative Stimmigkeit

Markus Hirsch stellte in seinem Beitrag Begriff und Bedeutung der „Stimmigkeit“ im Sinne von runder, idealer Unterrichtsstunde, wie Hilbert Meyer und Werner Jank ihn benutzen, in Frage. Im Gegensatz zu dieser herkömmlichen Auffassung entwickelt sich in der Ästhetik des 20. und 21. Jahrhunderts ein alternativer Begriff von Stimmigkeit, der die Spannung zwischen der Auflösung des Vollkommenheitsbegriffs unter dem Einfluss von Fragmentarizität in sich austrägt. Basierend auf einer kompositorischen Analyse wurden die Stimmigkeitsideale der Komponisten hinsichtlich einer alternativen Stimmigkeit analysiert. Die dabei verwendeten Parameter für Stimmigkeit wurden zuvor ausgehend von Adornos Ästhetischer Theorie entwickelt. Als adäquate Antwort auf das Normproblem, das sich bei der Übertragung aus dem künstlerischen Bereich des Komponierens auf den Bereich didaktisch-methodischen Handelns stellt, entwickelte Hirsch einen hypothetischen Vergleich, in dem die Vergleichbarkeit von Komponieren und Musikunterricht planen theoretisch dargestellt wird. Die als Ergebnis gewonnene fermenta cognitionis für Musiklehrende fordern eine künstlerische Perspektive ein, die zum Teil in deutlichem Widerspruch zu einem an Zielgerichtetheit und Logik orientierten Planungshandeln steht.

Im Laufe der Tagung wurde deutlich, dass es im 21. Jahrhundert eine begründete wertzuschätzende Pluralität von didaktischen Konzeptionen gibt, die zusammen den musikpädagogischen Archipel charakterisieren und konstituieren. Klar wurde auch, dass es noch viele unerforschte Inselgruppen gibt und dass eine zeitgemäße Musikpädagogik immer wieder neue Konzeptionen verfassen muss und darf. Der Diskurs fand in stets konstruktiver und anregender Art statt. Hierzu trugen zum einen das ausgewogene Verhältnis zwischen philosophisch-hermeneutischen und empirischen musikpädagogischen Betrachtungen, zum anderen die wertschätzenden Diskussionen zwischen Vertreterinnen und Vertretern von Schulmusik und Instrumentalpädagogik aber auch das schöne Ambiente der Gastgeberstadt Graz bei.

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