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Foto: ZDF / © Lobster Films/ZDF www.arte.tv/guide/de/048715-000/j-accuse-ich-klage-an-1-2
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Monumentale Abstraktion der Partitur

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Der Stummfilm „J’accuse“ mit neuer Tonspur
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Als der wahnsinnig gewordene Held Jean auf ein mit Kreuzen gefülltes Gräberfeld blickt, kreischt elektronische Musik über den Tonrepetitionen eines präparierten Klaviers und lang ausgehaltenen Streicherklängen. Mit der Auferstehung der toten Soldaten tritt ein virtueller Chor hinzu, ein Ruf aus dem Jenseits über die Schwarz-Weiß-Bilder.

Am 8. November wurde im Pariser Salle Pleyel zum Andenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs Philippe Schoellers Musik zu dem 2007 digital restaurierten Stummfilmklassiker „J’accuse“ mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France uraufgeführt. Als eine Art altgriechische Tragödie versteht der französische Komponist den über dreistündigen Film, welcher die katastrophalen psychologischen Folgen des Kriegs widerspiegelt.

Auch Jean (Romuald Joubé), ein Dichter, der seinen Traum von einer friedvollen Welt verlässt, um die Entführung seiner Geliebten Edith (Maryse Dauvray) an der Front zu rächen, kann dem Verfall nicht entkommen. Als einzige Macht gegen die Omnipräsenz des Todes steht Ediths Tochter Angèle (Angèle Guys), von einem deutschen Soldat durch Vergewaltigung zum Leben gebracht.

Symbolreich und manchmal surrealistisch schildert der Filmemacher Abel Gance den Konflikt zwischen Liebe und Gewalt, Glaube und Verzweiflung. Der Hund von Ediths gewalttätigem Ehemann François bleckt seine scharfen Zähne, bevor der Geist einer Frau über ein Feld schreitet; menschliche Skelette, die im Kreis tanzen, werden Jeans Wehrpflicht gegenübergestellt.

Den dramatischen Kontrasten entsprechend entwickelt Schoeller eine epische Tonsprache, die größtenteils von einem über neunzigköpfigen Orchester aufgeführt wird. Schwebende, mikrotonale Streichertöne in höchster Lage erzeugen ein ununterbrochenes, fast existentielles Angstgefühl; närrisches Schlagwerk und brüllende Blechbläser begleiten aufwühlende Momente wie François’ Racheausbruch gegenüber Angèle.

Geschickt integrierte Elektronik bildet dabei einen multidimensionalen Raum, von gespenstischem Flüstern, als Ediths Vater und Jeans Mutter eine strategische Landkarte von Frankreich vor dem Kamin ansehen, bis zu den hohlen, industriellen Klängen, welche auf den Tod der Mutter folgen.

Schoellers Musik kann ganz still stehen, um ein bestimmtes Bild in den Vordergrund zu stellen, oder ungehemmtes Chaos ausdrücken. Im dritten Teil des Films erobert die Elektronik die Klangwelt als Ausdruck von Jeans völligem Realitätsverlust. Die Soldaten marschieren über den Arc de Triomphe zu stechenden Rhythmen, gespenstisch durch die Lautsprecher tropfenden Pizzicati.

Auch wenn Schoeller die Dramatik musikalisch unterstreicht, bildet sich eine große Spannung zwischen den historischen Bildern und seiner höchstpersönlichen, emotional bedingten Tonsprache. Darin liegt auch die Leistung, eine veraltete Erzählungsmethode wieder ins Leben zu rufen, denn in einem Zeitalter von dreiminütigen, blitzgeschnittenen Videos hat der Stummfilm nicht unbedingt eine große Anziehungskraft.

Dennoch hätte Schoeller mit dem Einsatz von traditioneller Filmmusiktechnik die Geschichte klarer erzählen können. Fast neckisch setzt er eine steigende Melodie für den erkrankten Jean am Anfang des zweiten Teils ein; bei seiner Rettungsmission im Schützengraben hören wir kurz eine Klarinette. Solche Momente deuten nur auf die monumentale Abstraktion der Partitur, denn eine symbolhafte Figur wie Jean – als „toute la France“ (ganz Frankreich) in einer Überschrift vorgestellt – könnte mit einem emotional geladenen Leitmotiv noch stärker wirken.

Die minutiöse Leitung des Dirigenten und Filmmusikspezialisten Frank Strobel half dabei, solche Gedanken während der Aufführung zu vergessen, indem eine nahtlose Koordination zwischen dem Bild und der Partitur entstand. Das Orchestre Philharmonique de Radio France setzte Schoellers anspruchsvolle Techniken mühelos um, auch dank einer viertägigen Probenarbeit.

Die von ARTE/ZDF, Lobster Films und IRCAM beauftragte Produktion wurde am 11. November über Fernsehen und Internet ausgestrahlt, 96 Jahre nach dem Waffenstillstand zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich/Großbritannien.

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