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„Noch einmal die Nuss knacken“

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Musikgeragogik gewinnt an Bedeutung – ein Gespräch mit Angelika de Marco
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Waren 1970 noch 30 Prozent der Menschen in Deutschland unter 20 Jahre alt, so sind es jetzt nur noch circa 19 Prozent. Gleichzeitig stieg der Anteil der über 60-Jährigen von 20 Prozent auf über 26 Prozent. Für Musikpädagogen bedeutet dieser demographische Wandel, dass der Unterricht mit Erwachsenen und vor allem mit Senioren immer wichtiger wird. Alten Menschen bietet das eigene Musizieren viele Chancen zur Gestaltung eines erfüllten und glücklichen Lebens bis hin zum Erhalt geistiger, emotionaler und körperlicher Fitness, ja sogar auch zur Hinauszögerung von Demenz. Seit einigen Jahren werden in Münster, Rendsburg, Berlin, Sondershausen, Engers und Hammelburg Qualifzierungskurse für Musikgeragogen angeboten. Die Münchner Musikpädagogin Angelika de Marco besuchte 2012 den ersten Kurs in Bayern. Sie berichtet im folgenden Gespräch mit Franzpeter Messmer über ihre Arbeit.

neue musikzeitung: Wie kamen Sie zur Musikgeragogik?

Angelika de Marco: Bei einer Fortbildung in Elementarer Musikpädagogik stellte Barbara Metzger unter anderem die Arbeit mit Senioren vor. Dabei erzählte sie vom geplanten ersten Zertifizierungslehrgang in Bayern.

nmz: Wie wurden Sie Musikgeragogin?

de Marco: Ich habe den Abschluss als Diplom-Musiklehrerin im Fach Elementare Musikpädagogik. 2012 absolvierte ich den Zertifikationskurs „Musikgeragogik“ des Verbandes Bayerischer Sing- und Musikschulen, den dieser damals erstmals anbot. Da ich schon Erfahrung mit Erwachsenengruppen hatte, war die Arbeit mit Senioren eine sinnvolle Vertiefung.

nmz: Welche besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten muss ein Musikgeragoge haben?

de Marco: Wir erfuhren bei unserer Ausbildung viel von Ärzten über verschiedene Alterskrankheiten und über das, was im Gehirn älterer Menschen geschieht. Wir lernten, was man sinnvoll anbieten kann. Ich erhielt dadurch ein fundiertes Wissen, wie ein qualitativer Unterricht für Senioren auszusehen hat.

nmz: Sollen rüstige Rentner, die zum Beispiel mit siebzig noch Saxophon lernen wollen, zu einem „normalen“ Musikpädagogen gehen oder sind sie besser bei einem Musikgeragogen aufgehoben?

de Marco: Das Wichtigste ist die persönliche Sympathie, und das gilt in jedem Alter, ob Jugendlicher oder Senior. Man kann nur Musik machen, wenn man das Gefühl hat, auf derselben Wellenlänge zu liegen. Dazu ist nicht unbedingt eine musikgeragogische Ausbildung notwendig.

nmz: Welches Alter haben Ihre Schüler? Wäre ich mit etwas über sechzig für Sie ein möglicher „Teilnehmer“?

de Marco: Unbedingt! In den Fachbüchern beginnt der Begriff des Seniors mit 50, 55. Die Altersgruppen, die ich unterrichte, reichen von 2 bis 99 Jahren. Ich unterrichte eine Dame mit 77, die mit Klavier angefangen hat. In einem Tagesheim leite ich eine Gruppe von Senioren zwischen 85 und 95. Die vielen Facetten meiner Arbeit reichen vom Einzelunterricht mit Instrument, allgemeiner Musikpädagogik bis zur Veeh-Harfe.

nmz: Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich sehr individuell auf ihre Teilnehmer einstellen müssen.

de Marco: Sich auf die immer neue und andere Situation einzustellen, ist das Interessante und die Herausforderung in meinem Beruf: Wie alt ist derjenige, der mir gegenübersitzt, was möchte er mit mir machen, was will er musikalisch erleben und auf welchem Niveau ist dies in seiner Lebensphase möglich? „Erwachsene haben eine musikalische Entwicklung schon hinter sich“

nmz: Wie unterscheidet sich der Musikunterricht für ein Kind oder einen Jugendlichen von dem für einen Senior, wenn Sie zum Beispiel die Anfangsgründe des Klavierspiels erklären?

de Marco: Bei den Senioren geht es nicht um den schnellen Fortschritt, wie dies bei Kindern wichtig ist, vielmehr um den Akt des Tuns: Dass wir jetzt im Moment, wenn wir Stunde haben, gemeinsam Musik machen und Spaß dabei haben. Erwachsene Menschen haben eine musikalische Entwicklung schon hinter sich, haben sich kulturell gebildet, kennen sich musikalisch aus und wollen ganz andere Musik als Kinder machen. Ich schaue, dass ihnen die Musik entspricht, etwa eine Operettenarie, ein Volkslied, also Musik, die in ihrem Leben vorkam. Die Senioren haben gelernt, analytisch zu denken. Sie wollen wissen, was sie tun. Ich muss deshalb den Unterricht analytisch aufbauen. Bei ihnen fange ich mit viel Erklären und Klarstellen an. Das ist ein ganz anderer Grundansatz als bei der Arbeit mit Kindern.

nmz: Wie gehen Sie mit der im Alter abnehmenden Beweglichkeit um?

de Marco: Üben, üben! Die Senioren muss ich bei dem abholen, was noch geht und was noch möglich ist. Daran muss man sich anpassen. Ein Tschaikowsky- Klavierkonzert habe ich bis jetzt noch nicht einstudiert.

nmz: Beim Unterricht für Senioren ist kein Druck da, während Jugendliche etwa einen „Jugend musiziert“-Preis anstreben...

de Marco: Genau. Meine persönliche Überzeugung ist, dass Musik in erster Linie Spaß machen muss und man das Gefühl hat, etwas Gutes für sich und seine Seele zu tun.

nmz: Als Senior Musik zu machen, ist eine Möglichkeit, körperlich und geistig fit zu bleiben. Ist dies ein wichtiges Motiv für ihre Teilnehmer?

de Marco: Ja. Sich geistig neu zu fordern, noch einmal die Nuss knacken zu wollen, das ist neben dem Spaß und der Freude an der Musik bei allen da. Sie wollen es noch einmal wissen: Schaffe ich das? Sie müssen sich überwinden, sich noch einmal in etwas Neues einzuarbeiten, auch wenn die Enkelkinder darin schon viel besser sind. Viele sagen: Ich wollte das schon immer und jetzt möchte ich anfangen. Bei der Veeh-Harfe höre ich oft das Argument: Ich wollte schon immer ein Instrument spielen und jetzt komme ich endlich dazu.

nmz: Wie bringen Sie Demenzkranke zum Musizieren?

de Marco: Bis jetzt unterrichtete ich Gruppen von Senioren, die unterschiedliche Krankheitsbilder hatten, darunter auch dementielle Veränderungen. Es kommt immer auch auf das Stadium der Demenz an. Da muss man sehr individuell darauf schauen. Ich kann mit einer solchen Gruppe nichts machen, was auf die letzte Stunde aufbauen würde. Ich biete immer Neues an, baue aber Wiederholungen ein, wenn es in den Ablauf passt. Sich durch eigenes Musizieren wieder selbst spüren lernen

nmz: Was bewirkt es, wenn demente Menschen musizieren?

de Marco: Nach meiner Erfahrung sehr viel. An Hand eines Liedes erinnern sie sich an frühere Erlebnisse in ihrer Kindheit und Jugend. Sie können oft noch viele Strophen eines Volksliedes auswendig, die ich mir mühsam angeeignet habe. Wenn sie das singen, fühlen sie, wer sie sind, können sich mit sich selbst identifizieren. Sie merken: Ich habe eine Vergangenheit, ich bin jemand gewesen. Dieses Sich- Selbst-Spüren geht mit dieser Krankheit immer mehr verloren. Dadurch, dass man Türen öffnen kann, spüren sie sich wieder besser.

nmz: Sie machen also musikalische Vorschläge und schauen, ob sie eine Resonanz auslösen?

de Marco: Wenn ich einen Schlager anbiete, der ein großer Hit in dieser Zeit war, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich damit einer in der Gruppe identifizieren kann und sagt: „Das war in meiner Jugend. War das schön!“ Diese Lieder muss ich mir hart anlernen, da das nicht meine Zeit war. Doch die Senioren können sie alle, wissen oft jede Strophe, was mir wiederum schwer fällt. Aber wenn ich einmal einen Hänger habe, helfen sie mir weiter.

nmz: Sie begleiten auch Menschen in einem Hospiz auf ihrem letzten Weg. Was kann hier die Musik bewirken?

de Marco: Ich habe Menschen im Hospiz in ihrer letzten Lebensphase begleitet, deren gebrechlicher Körper nicht so mitspielte, wie sie es gerne gehabt hätten. Das waren interessierte, klare und wache Menschen. Meine Arbeit mit ihnen war wunderbar, da ich das Gefühl hatte, ich kann sie von ihren Schmerzen, von dem nicht mehr intakten Körper im Moment des Musizierens etwas ablenken und ihnen eine emotional schöne Zeit schenken. Mit der Veeh-Harfe ging das gut, da sie ohne mich weiter üben konnten. Speziell eine sterbende Dame, die nicht mehr sprechen konnte, war geistig sehr fit. Das Zupfen mit den Fingern war ihr noch möglich. Sie war viel allein zu Hause, fing an, sich die Musikstücke selbst anzueignen, und war immer perfekt vorbereitet. Ich habe gesungen oder wir haben zweistimmig gespielt. Das war für mich eine große Bereicherung und für sie eine letzte Möglichkeit, sich auszudrücken und emotional berührt zu werden.

nmz: Musik, die nicht im Konzert erklingt, vielmehr den letzten Weg begleitet, ist eine ganze andere Erfahrung!

de Marco: Selbst Musik machen, ist der wichtigste Punkt, ganz gleich ob auf der Veeh-Harfe oder auf einem Orff-Instrument. Das ist eine ganz andere Erfahrung als in einem Konzert zu sitzen und zuzuhören. Musikgeragogen regen die Menschen an, selbst zu musizieren, was sie bisher oft nicht konnten.

nmz: Wie ist die berufliche Situation von Musikgeragogen?

de Marco: Immer mehr Musikschulen konzentrieren sich auf Musikgeragogik und interessieren sich dafür, einen Musikgeragogen anzustellen. Ich selbst arbeite freiberuflich, biete beispielsweise Projekte mit einer bestimmten Stundenzahl an, unterrichte privat Klavier oder die Veeh- Harfe. Das funktioniert gut. Die Veeh- Harfe wollen die etwas rüstigeren Senioren lernen, die noch mobil sind und zu mir in die Musikschule kommen können. In Zukunft würde ich gerne Veeh- Harfenunterricht für nicht mehr mobile Senioren anbieten, also für Senioren, die nicht mehr aus ihrem Haus herauskommen, um gerade ihnen eine sinnvolle Zeit zu schenken, in der Hoffnung, dass die Angehörigen auch dabei sind und dass diese dann irgendwann mit den Senioren zusammen die Veeh- Harfe spielen und mich nicht mehr benötigen.

nmz: Ist die Musikgeragogik in den Seniorenheimen schon bekannt?

de Marco: Es ist sehr viel Aufklärung notwendig. Das Wort Musikgeragogik kennen noch die aller wenigsten Leiter von Seniorenheimen. Die Wichtigkeit und Sinnhaftigkeit dieser Arbeit muss immer wieder dargestellt werden.

nmz: Wir wissen, dass unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren immer älter wird: Eröffnet sich für Musikgeragogen hier ein großes Wirkungsund Berufsfeld?

de Marco: Unbedingt. Es werden immer mehr alte Menschen leben, vor allem fitte und gesunde Senioren, die eine neue Aufgabe suchen, sich weiterbilden und sich selbst etwas Gutes tun wollen. Es wird immer wichtiger werden, sich im Alter mit sinnvollen kulturellen Aktivitäten zu beschäftigen. Deshalb bin ich überzeugt, dass die Musikgeragogik eine Zukunft hat.

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