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Niedrigschwellige Singgruppen als Einstieg: Hayat Chaoui, Bergische Musikschule Wuppertal. Foto: Karl Ermert
Niedrigschwellige Singgruppen als Einstieg: Hayat Chaoui, Bergische Musikschule Wuppertal. Foto: Karl Ermert
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Rausgehen, nicht warten bis die Zielgruppe kommt

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Zur Tagung „Chormusikkultur und Migrationsgesellschaft“ des AMJ in Wolfenbüttel
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Gut vier Fünftel der Leiterinnen und Leiter von Kinder- und Jugendchören finden, dass Menschen mit Migrationshintergrund in ihren Chören unterrepräsentiert sind. Das ist eines der Ergebnisse einer bundeweiten Online-Befragung, die der Arbeitskreis Musik in der Jugend (AMJ) im Sommer 2015 durchgeführt hat. 173 Chorleiter/-innen beantworteten bis zu 60 Fragen hierfür. 52 von ihnen leiten Chöre, in denen kein einziges Kind nichtdeutscher Herkunft singt. Aus Nordrhein-Westfalen beteiligten sich die meis­ten, nämlich 37 ChorleiterInnen, aus den östlichen Bundesländern insgesamt acht, wobei Mecklenburg-Vorpommern ganz fehlte. Dies lässt sicher Schlüsse über den Grad der Repräsentativität der Befragung zu, aber möglicherweise auch über die geografische Verteilung des Problembewusstseins zum Befragungsgegenstand.

Die Umfrage fand im Rahmen eines einjährigen Forschungsprojekts zum Thema „Chormusikkultur und Migrationsgesellschaft“ statt, das – finanziert aus dem Etat der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien – zu ermitteln versuchte, wie sich der migrationsbedingte demographische Wandel in den Kinder- und Jugendchören hierzulande bemerkbar macht. Außerdem sollten Gründe möglicher Barrieren für die kulturelle Teilhabe nichtdeutscher Kinder am musischen Lernort Chor offengelegt werden.

Laut AMJ-Studie schätzen ChorleiterInnen Bildungsniveau und materiellen Wohlstand der Familien ihrer Mitglieder als überdurchschnittlich ein, sowohl für Herkunftsdeutsche wie auch für Familien mit Migrationsgeschichte. In den Chören mit „geografisch herkunftsbezogener Vielfalt“ singen am meisten Kinder mit türkischen, russischen, polnischen, italienischen, kroatischen und afghanischen Wurzeln. In den kirchlich getragenen Chören überwiegen dabei Kinder mit europäischem Migrationshintergrund, in den Schulchören solche mit familiären Wurzeln im östlichen und südlichen Mittelmeerraum. Dies und eine Vielzahl weiterer Parameter – immer aus Sicht der ChorleiterInnen – hat die Studie erhoben.

Ende Oktober nun veranstalteten AMJ und die Bundesakademie für Kulturelle Bildung in Wolfenbüttel eine abschließende Tagung, deren Ziel es unter anderem war, die erhobenen Daten im Dialog mit den Fachleuten aus der Praxis zu interpretieren. Auch unter den etwa 60 Teilnehmenden waren Menschen mit Migrationsgeschichte, die derzeit 20 Prozent der deutschen Bevölkerung ausmachen, unterrepräsentiert. Ausgerechnet Yasemin Jesse aus dem Bundesvorstand der Türkischen Gemeinde in Deutschland, fürs Eröffnungspodium als Diskutantin angekündigt, musste aus gesundheitlichen Gründen fernbleiben.

Die allgemeine Leitfrage der Tagung – Können Kinder- und Jugendchöre Orte transkulturellen Lernens sein? – führte immer wieder zu einer ganz spezifischen, sich aktuell aufdrängenden Frage: Welchen Beitrag können Chöre zur Integration jüngst Geflüchteter leisten? In diesem Kontext betonte Prof. Christian Höppner, Generalsekretär des Deutschen Musikrates, sei es wichtig, nicht auf Blaupausen zu warten, die es ohnehin nicht gäbe, sondern konkrete Schritte zu tun. Nina Ruckhaber aus dem Vorstand der Deutschen Chorjugend mahnte an, dass man die Integrationsarbeit im Chor nicht nur Ehrenamtlichen überlassen dürfe. Die sozialen Randbedingungen der Chorarbeit müssten stärker als bisher in die Ausbildung von ChorleiterInnen einfließen. Hinsichtlich der hier aufgewachsenen Jugendlichen warnte Prof. Dorothee Barth, stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbandes Musikunterricht, vor Reduktion auf eine vermeintliche Herkunft, vor einer folkloristischen (Re)Ethnisierung. Ziel transkultureller Chorarbeit sollte es nicht sein, um jeden Preis ein bestimmtes kulturelles Erbe zu konservieren, sondern gemeinsam gute Musik zu machen. Was das sei, müsse von Fall zu Fall ausgehandelt werden. Matthias Balzer, Präsident des katholischen Deutschen Chorverbandes Pueri Cantores, sprach das Problem an, wie man als konfessioneller Chor Kinder anderer religiöser Prägung erreichen solle oder könne.

Den spannendsten Beitrag des ers­ten Tages lieferte Hayat Chaoui, Fachbereichsleiterin Gesang an der Bergischen Musikschule Wuppertal. Die fast 60 Prozent der unter 20-Jährigen mit Migrationsgeschichte in ihrer Stadt finden nur vereinzelt den Weg in die Chöre der Musikschule. Also entwickelte Chaoui, als Tochter von Arbeitsmigranten selbst im Schulchor in Frankfurt musikalisch sozialisiert, zahlreiche Kooperationen mit Institutionen, an denen diese Kinder und Jugendlichen oder auch ihre Mütter ohnehin zu finden sind: Schulen, JobCenter, Eltern-Kind-Café im sozialen Brennpunkt. Die große Beteiligung an den zunächst niedrigschwelligen Singgruppen gibt der Strategie recht, nach draußen zu gehen anstatt darauf zu warten, dass die Zielgruppe kommt.

Gute Praxisbeispiele bekannt zu machen, auf ihre Erfolgsfaktoren hin zu analysieren und daraus Vorgehensweisen abzuleiten, scheint auf dem Weg zu mehr Teilhabe in Kinder- und Jugendchören mindestens ebenso wichtig zu sein, wie die kleinteilige statistische Bestandsaufnahme des zumeist eher unbefriedigenden Status quo. An Tag zwei diskutierten in Wolfenbüttel Arbeitsgruppen unter der Fragestellung „Was wir jetzt sehen und brauchen“ die Bereiche Chorleitungspraxis, Kulturpolitik sowie Forschung und Ausbildung. Die Ergebnisse der AMJ-Erhebung und sämtliche Tagungsbeiträge werden Anfang 2016 in einem Sammelband veröffentlicht.

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