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Reichhaltig und widersprüchlich

Untertitel
Michael John beleuchtet eine unbekannte Seite der sowjetischen Musikgeschichte
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Mit vorliegendem Titel ist eine wichtige Arbeit anzuzeigen, die entschieden über die bisherige Musikgeschichtsschreibung auf diesem Gebiet hinausgeht, da sie nicht im engeren Sinn auf die Kompositionsgeschichte konzentriert ist, sondern den (gelungenen) Versuch unternimmt, die Entstehung der neuen sozialistischen beziehungsweise sowjetischen Musikkultur aus den das Musikleben prägenden Institutionen und Instanzen heraus zu deuten, das heißt wesentlich auf der Grundlage der Beschreibung und Erschließung von Denkformen, wie sie seinerzeit in den Bereichen Musikpädagogik, Musikethnographie und Musikästhetik anzutreffen waren.

Der Autor räumt insoweit mit der Vorstellung auf, dass es durch die Oktoberrevolution zu einem radikalen Schnitt in der russischen Musikgeschichte mit sich abrupt verändernden Wahrnehmungs-, Wirkungs- und Funktionsformen der Musik gekommen wäre. Genannte Vorstellung fußt einerseits auf ideologisch befangenen Deutungen der sowjetischen Musikgeschichtsschreibung, die ihrer Musik notwendig einen gloriosen Neuanfang bescheinigen musste, andererseits auf dem Wunschdenken mancher westlicher Historiker, die nicht hinreichend mit den Hintergründen des russischen Musiklebens vor der Oktoberrevolution vertraut waren und sich deshalb unkritisch an sowjetische Sichtweisen anschlossen. Dieser Gefahr unterliegt­ der Autor der vorliegenden Arbeit nicht; er ist bes­tens auch mit abgelegenen, internen Theoriediskussionen zum Beispiel in der Kirchenmusik, der Volksmusik- und Bildungsforschung vertraut und lässt den Leser, nie ermüdend und um Anschaulichkeit bemüht, gerne daran teilhaben. Es wurde eine große Fülle an Material aufgearbeitet (siehe Literaturverzeichnis), die der Arbeit, dank reicher, aber nie ausufernder Zitate und Belege einen hohen dokumentarischen Wert verleiht.

Eine ausführliche Besprechung der Arbeit würde den hier vorgegebenen Rahmen sprengen; es können daher nachfolgend nur einige Hinweise zu zentralen Themenkomplexen gegeben werden: Kapitel 1 fragt im Rahmen eines methodologischen Gesamtaufrisses nach der Rolle und den Funktionen der Musik im sowjetischen Kultursystem. Kapitel 2 bis 4 widmen sich der Volksmusikforschung und den Diskussionen um neue Ansätze der Kirchenmusik in den letzten Jahrzehnten vor der Oktoberrevolution. Es wird dabei aufgezeigt, in welchen einzelnen Momenten wichtige Konzepte der Musikethnologie und der geistlichen Musik Anknüpfungspunkte für die Etablierung der Ideologie des sozialistischen Realismus boten. Besonderes Augenmerk gilt der Figur Aleksandr Kastalskijs, der in der Personalunion von Kirchenmusiker, Volksliedforscher und Vorkämpfer für die neue sowjetische Musik eine ebenso bedeutende wie fesselnde Rolle im Musikleben spielte. Kapitel 5 bis 9 beleuchten den fortschreitenden Prozess der Ideologisierung der Musik in den 20er- und 30er-Jahren. Im Einzelnen geht es um die Idee und Praxis einer „proletarischen Musik“, um Konzepte musikalischer Bildung und Früherziehung sowie um die Vorstellung einer „Musik der Massen“ einschließlich ihrer seinerzeit reflektierten Mobilisierungstechniken und Darbietungsmodi. Breiter Raum wird den Debatten um eine neue sowjetische Musikästhetik gegeben, welche dann bis spätestens Mitte der 30er-Jahre in die Ausformung einer zumindest äußerlich kohärent wirkenden Ideologie des sozialistischen Realismus in der Musik einmündete, zentriert auf Kategorien wie Volkstümlichkeit, Verständlichkeit, Parteilichkeit und Wahrhaftigkeit. Kapitel 10 appliziert musiktheoretische Konzeptionen der Zeit auf die Diskussionen um eine sowjetische Musikästhetik. Es handelt sich dabei weniger um Musiktheorie im Sinne von Handwerkslehre (wie Harmonielehre, Kontrapunkt und anderes) − wenngleich das auch noch mitschwingt −, als vielmehr um kühne, wahrhaft die Nomenklatur „Theorie“ verdienende Öffnungen hinein in (Rand-)Gebiete der Ästhetik, Geschichtsphilosophie oder gar Wahrnehmungspsychologie.

Dafür stehen Namen wie Boris Asafiev und Boleslav Javorskij – hochoriginelle Denker zwischen „Subversion und Affirmation“ (S. 357ff.) im damaligen Zeitkontext. Ebenso seltsam wie verstiegen-konsequent erscheint das Vorhaben Aleksandr Vepriks, eine sozialistische Instrumentationslehre zu schaffen („Über die klassenspezifische Bedingtheit der Orchestrierung“, Moskau 1931): „Erst wenn die Einheit der Tonhöhe und Klangfarbe mit ihrer sozialen Bestimmung des Bewusstseins von der Klassenbedingtheit des orchestralen Ganzen einhergeht, kann das zu einer kritischen Aneignung der bourgeoisen Tradition der orchestralen Musik führen und uns somit der Begründung eines proletarischen Orchesterstils näher bringen“ (S. 381). Kapitel 11 bis 13 wenden sich der Musik selbst zu und fokussieren zentrale Gattungen der Musik des sozialistischen Realismus: Massenlied, Liedsymphonie und Musik im Film (in der speziellen Variante des sowjetischen Musikfilms). Dabei mangelt es nicht an Rückbezügen auf mancherlei Diskurse um Rang und Funktion dieser Gattungen sowie an detaillierten Betrachtungen von Referenzobjekten; viel unbekannte Musik kommt zur Sprache. Die Oper als die im ästhetischen Ranking am höchsten stehende musikalische Gattung (da nicht nur monumental im Aufgebot der äußeren Mittel, sondern text- und sujetgebunden sowie szenisch unmittelbar sinnfällig, das heißt zu didaktischen Zwecken geeignet) wird nicht eigens thematisiert beziehungsweise nur in Bezug auf die genannten Gattungen gestreift. Die Schlussbetrachtungen (Kap. 14) gelangen zu dem bemerkenswerten Resümee, dass die vielschichtigen, in die russische Musik des 19. Jahrhunderts zurückweisenden Motive des Ringens um eine neue sowjetische Musik es nicht vermocht hätten, eine monolithische (man könnte auch sagen: ideologisch kontrollierte und funktionalisierbare) Musik zu schaffen; daher müssten alle Ansätze in Frage gestellt werden, „die von zu offensichtlichen Auswirkungen des musikästhetischen Diskurses auf eine bereits in den 30er-Jahren einsetzende Uniformierung der Musik ausgehen. Eine uniformierte Darstellung der sowjetischen Musikgeschichte ergibt sich oftmals erst aus der retrospektiven Darstellung der sowjetischen und westlichen Sekundärliteratur“ (S. 602).

In diesem Befund möchte man dem Autor gerne zustimmen, was nichts anderes heißt, als dass die sowjetische Musik in ihrer ganzen Reichhaltigkeit und auch Widersprüchlichkeit erst noch zu entdecken ist, und zwar jenseits eingefahrener Historiographie, die über die Werke einiger weniger Heroen (wie S. Prokofieff und D. Schostakowitsch) hinaus bislang nur Weniges zur Kenntnis nimmt beziehungsweise allzu viele blinde Flecken aufweist.

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