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Babylonische Buchstabensuppe: Willard White (oben Mitte), Claron McFadden und Jussi Myllys. Foto: Wilfried Hösl
Babylonische Buchstabensuppe: Willard White (oben Mitte), Claron McFadden und Jussi Myllys. Foto: Wilfried Hösl
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Schnöde Tochter in überladenem Klanggewand

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Mit ihrer Oper „Babylon“ versuchen sich Jörg Widmann und Peter Sloterdijk an einer „Zauberflöte“ für das 21. Jahrhundert
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Es war eine traurig-schöne Koinzidenz, dass die Uraufführung von Jörg Widmanns Oper „Babylon“ ausgerechnet an Hans Werner Henzes Todestag über die Bühne der Bayerischen Staatsoper ging. Seinem Andenken widmete das Produktionsteam dann auch die Premiere. Intendant Klaus Bachler erinnerte in einer kurzen Ansprache an Henzes Wirken gerade auch in München und beschwor somit unfreiwillig jene musiktheatrale Meisterschaft, die man an diesem Abend dann so schmerzlich vermissen sollte.

Den Ausgangspunkt ihres ambitionierten Opernvorhabens hatten Komponist Jörg Widmann und Librettist Peter Sloterdijk mit der ihnen eigenen Wortgewandtheit vorab durchaus nachvollziehbar machen können und entsprechend hohe Erwartungen geweckt: Das antike Babylon wollten sie lebendig werden lassen, wollten es über die Klischees von der sprachverwirrten „Hure“ und „schnöden Tochter“ hinaus in seinen historischen und mythologischen, seinen religiösen und philosophischen Facetten zeigen, dabei aber gleichzeitig pralles, sinnliches Musiktheater auf die Bühne bringen. Die nicht für asketische Zurückhaltung bekannten katalanischen Bilderzeuger von La Fura dels Baus unter der Regie von Carlus Padrissa schienen da gerade recht zu kommen. In sieben Abschnitten (die Zahl der von den Babyloniern eingeführten Wochentage ist auf vielfache Weise präsent) erzählen Widmann und Sloterdijk die Geschichte Tammus, eines exilierten, in Babylon assimilierten Juden, der nicht nur zwischen beiden Kulturen steht, sondern auch zwischen zwei Frauen. Die eine, „Die Seele“, verkörpert die platonische Liebe und seine jüdische Herkunft, die andere, Inanna, als Pries­terin der Liebesgöttin handfeste, heidnische Erotik. Überblendet wird dieser als symbolisches Motiv, nicht als Dreiecksbeziehung ausgearbeitete Handlungsstrang mit einem mythologie- und religionshis­torischen Blick auf Babylon und das dort lebende jüdische Volk.

Tammu erlebt in einem von Inanna herbeigeführten Traum die babylonische Sintflut und wird als Kandidat für eines der seither vollzogenen Menschenopfer auserkoren, während gleichzeitig der Prophet Ezechiel bei seiner von Gott eingegebenen Niederschrift der Bibel Abrahams Menschen- in ein Tieropfer umdeutet. Inanna befreit Tammu – Sloterdijk übernimmt hier eine Frühform des Orpheus-Mythos‘ – aus der Unterwelt, eine neue Zeitrechnung bricht an. Gerahmt ist die Handlung durch die Figur des Skorpionmenschen, der am Ende wieder als einziger Überlebender mit einem Benn-Zitat auf den Lippen über die Trümmer einer untergegangenen Zivilisation wandert.

Das Problem von Sloterdijks Libretto-Erstling ist nicht unbedingt die Überfrachtung mit Ideen, Motiven oder Bezügen quer durch die (Opern-)Geschichte, sondern die mangelnde dramaturgische Stringenz. Monologe (etwa zu Beginn der „Seele“ und Tammurs) verfehlen ihren Zweck, Charaktere klar zu umreißen, dialogische Passagen kommen nicht zum Punkt, die größeren Tableaus (insbesondere die Flut und das anschließende um Orgiastik bemühte Neujahrsfest) treten auf der Stelle.

Jörg Widmann wiederum ist der Versuchung erlegen, die von der Vorlage angebotene Opulenz in der Musik noch übersteigern zu wollen. Der beinahe absurd aufgeblähte Orches­terapparat will permanent beschäftigt sein, nur einmal nimmt der Komponist sich die Zeit, eine Klangkonstellation in aller Ruhe zu entwickeln: Die Unterwelt-Szene, die mit einem zerbrechlichen Duo zwischen Bühnenklarinette (gleichsam ein Alter Ego des Instrumentalsolisten Widmann) und „Seelen“-Sopran einsetzt, erhebt sich aus den Tiefen der Bässe und Kontrafagotte. Für die verschiedenen szenischen Charaktere findet der Henze-Schüler ansonsten keinen spezifischen Tonfall, eklatant ist die (dem umsichtigen Kent Nagano wohl nur zu einem geringen Teil anzulastende) mangelhafte dynamische Balance im Theaterraum, die den Sängern keine Möglichkeit zu differenzierter Entfaltung gibt. Da muss schon eine Gabriele Schnaut kommen, um sich als personifizierter Fluss Euphrat über die Orchesterfluten zu erheben. Hier dürften Hörer der offenbar gut ausgesteuerten Rundfunkübertragung einen besseren Eindruck bekommen haben.

Gescheitert ist der Komponist aber vor allem an dem selbst gesteckten Ziel, die im Libretto kaum thematisierte sprichwörtliche Sprachverwirrung in Form einer unvoreingenommenen Genre-Collage zum Gegenstand der Vertonung zu machen. Das Hineinmontieren verschiedenster stilistischer Tonlagen, vor allem aus der U-Musik, in die immer wieder mit lautstarkem Aplomb sich aufschaukelnde Neue-Musik-Süffigkeit, klingt weniger nach souveräner kompositorischer Verfügung denn nach Anstrengung. Das liegt auch daran, dass Widmann nicht klarzumachen versteht, mit welcher Stillage er es gerade ernst meint. Es steht zu befürchten, dass das klebrige Liebesduett zwischen, vor allem aber unterhalb von Puccini und Weill dazugehört. Oder der pathetische Chor zu Beginn. Der klingt, als sei Hans Zimmer beim Komponieren der Musik zu einer Wolfgang-Petersen-Verfilmung von Bachs Lebensgeschichte größenwahnsinnig geworden und wird als dürftiger Musical-Abklatsch am Ende wiederaufgenommen. Eher bemüht denn leichtfüßig kommt auch die Schmunzelmusik des dritten, karnevalesken Bildes daher: Die bajuwarische Defiliermarsch-Dekonstruktion (sie geht auf Widmanns „Dubairische Tänze“ zurück), der Fingerschnips-Swing, zu dem ihn das Affenseptett („Wer hat die Kokosnuss?“) angeregt hat, und der anschließende Anflug von Operettenseligkeit wirken vor allem abgestanden. Beinahe mitleiderregend ist schließlich der in Bibel-Kitsch endende Versuch, in der vierten Szene mit der gesprochenen Rolle des Ezechiel und dem Gotteswort-Chor auf Schönbergs Meisterwerk „Moses und Aron“ anzuspielen.

Nicht nur dieses Nebeneinander des ernsten und des vermeintlich unterhaltenden Tons deuten darauf hin, dass Widmann und Sloterdijk in dezenter Selbstüberschätzung ganz offenbar nichts weniger als eine Art „Zauberflöte“ des 21. Jahrhunderts vorschwebte: Nicht von ungefähr erinnert Tammus Name an Tamino und der erste Fura-typische Auftritt Inannas, die auf neonbeschrifteten Schwingen hereinschwebt und den wie ein Mozart-Prinz gewandeten Jüngling mit funkelnden Koloraturen zu bezirzen beginnt, weckt offene Assoziationen mit der Königin der Nacht (nur in den oberen Regionen vermag sich die ansonsten fabelhafte Anna Prohaska akustisch wirklich durchzusetzen). Die singspielhaften Sprechpassagen à la Schikaneder („Und dennoch Herrin, was Ihr sagt, ist wahr.“) machen endgültig glauben, Tamino (statt eines wackeren Mozartsängers wie Jussi Myllys hätte es wohl eines Wagner-Tenors bedurft) hätte sich nicht für das Seelchen Pamina, sondern für deren durchsetzungsfähigere Frau Mama entschieden. Feuer- und Wasserprüfung vor der Opferung durch den sarastrohaft tönenden Priesterkönig lassen dann auch nicht lange auf sich warten. Willard White setzt sich mit guter Basspräsenz einigermaßen durch, bleibt dann allerdings als falsettierende, müde Schwes­ter Tod im sechsten Bild fast durchweg unterhalb der Hörschwelle.

Die von Carlus Padrissa und La Fura dels Baus wieder einmal gehörig auf Touren gebrachte Bühnenmaschinerie vermag dem einigermaßen missratenen Unterfangen kaum mehr als ein paar pralle Bildideen hinzuzufügen. Die Katalanen betonen mit vielen Schwarz-Weiß-Projektionen die archaischen Züge des Stücks, zoomen es andererseits quer durch die Geschichte bis an die Gegenwart heran (wenn sich etwa aus der Pixelflut ein Atompilz erhebt). Die mit Reliefen von Schriftzeichen verschiedener Alphabete bestückten Quader, die in immer neuen Haufen und Auftürmungen die Bühne beherrschen, können als ausgeschütteter Setzkasten oder als zerbrochene Computertastatur gedeutet werden. Von oben schwebt ein Quader herab, der an Rubik’s Cube erinnert, die Unterwelt wird von einem Meer nackter Leiber virtuell bevölkert, im Schlusstableau kracht ein à la Turmbau aufgeschichtetes Stadttor bühnenwirksam zusammen, ein Moment, dessen Überraschungseffekt durch das vorherige Aufspannen eines Schutznetzes vor dem Orchestergraben freilich verpufft.

Wenig anzufangen wissen Padrissa und sein Team mit Widmanns Humorbemühungen: Das unspezifische Gezappel in und vor den durchsichtigen Kunststoff-Geschlechtsteilen passt sich der pseudo-skurrilen Vertonung der Septette der Vulven und Phalloi mit Steeldrum und Piccolo-Kreischen an, im weiteren Verlauf des dritten Bildes hopst der Opernchor in seinen quietschbunten Kostümen etwas hilflos auf der überfüllten Bühne herum. 

Zusammengehalten wird der, seinen überwältigungs- und unterhaltungsästhetischen Anspruch gleichermaßen verfehlende Premierenabend, durch eine von Kent Nagano bewunderungswürdig zusammengehaltene Ensemble-, Chor- und Orchesterleistung. Als Solisten seien neben den genannten noch Kai Wessel als (im dritten Bild akustisch leider untergehender) Skorpionmensch, der namentlich nicht genannte, fabelhafte Solist des Tölzer Knabenchores als Bote und Claron McFadden als „Seele“ erwähnt, die rätselhafter Weise im „Barbielon“-Look eines Soul-Glamourgirls in Szene gesetzt wird.

Nachdem der mit einem ersten Buhruf einsetzende Applaus sich zu gro­ßer Zustimmung für die Interpreten und den Komponisten aufgeschaukelt hatte, musste einzig Librettist Peter Sloterdijk weitere Unmutsbezeugungen entgegennehmen.

Video-Tipp: www.nmz.de/media
Stichwort: Jörg Widmann

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