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Stille Nacht – ein Lied mit vier Schritten

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Weihnachten im Jahr 2043: Jedem Kind sein Singen und Tanzen · Von Anja Bossen
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Lara-Sophies Tochter Alina kommt am Tag vor den Weihnachtsferien aus der Schule. „Na, wie war‘s heute?“, fragt Lara-Sophie. „Wir hatten heute wieder JEKISST (Jedem Kind sein Singen und Tanzen), und es war sooo langweilig!“, ruft Alina. JEKISST ist ein neues Musik-Projekt, das die Kinder anstelle des Musikunterrichts haben. Die Kinder lernen jetzt was Richtiges, ganz viel Englisch und Chinesisch und Computer, damit sie kompetent für ihr Leben werden.

Bei JEKISST bestimmt die Schule, was die Kinder machen sollen, denn man kann nur eine Sache machen: entweder tanzen oder singen. Alinas Schule findet es am bes-ten, wenn alle Kinder tanzen lernen. Deshalb lernt Alina zwei Jahre lang tanzen im Vier-Schritt-Raum: zum Beispiel nach vorne, nach rechts, nach links und nach hinten. In dem Projekt lernt jedes Kind insgesamt vier Schritte, aber jedes Kind wird individuell nach seinen Fähigkeiten gefördert. So lernen etwa Kinder, die nicht rückwärts laufen können, weil sie den ganzen Tag fernsehen statt sich zu bewegen, nur vier Vorwärts-Schritte. Die etwas leistungsfähigeren Kinder lernen Vorwärts- und  Rückwärtsschritte in bis zu vier Kombinationen, und die Hochbegabten lernen alle Richtungen: vorwärts, rückwärts, rechts und links in bis zu zehn Kombinationen. Alle Kinder zusammen haben total viel Spaß.

Nach zwei Jahren können dann die meisten Kinder ihre Schritte sogar lang und kurz, laut und leise, schnell und langsam laufen. Die Begabtesten können zusätzlich auch besonders ausdrucksvoll hüpfen.

Lara-Sophie versteht nicht, warum ihre Tochter JEKISST langweilig findet: „Stimmt vielleicht irgendwas nicht mit Alina?“, denkt Lara-Sophie besorgt. Sie überlegt, ob sie vielleicht einen der JEKISST-Forscher anrufen sollte, die das Projekt wissenschaftlich begleiten, aber vorher liest sie erstmal im JEKISST-Begleitforschungsprogramm nach, ob das mit der Langeweile vielleicht schon erforscht ist. Aber sie findet dazu nichts. Stattdessen liest sie ganz viele andere interessante Sachen, die schon im ersten JEKISST-Jahr erforscht wurden. Die Forscher geben sich große Mühe, alles ganz schnell und gründlich für die Regierung zu erforschen und haben schon viele wichtige Sachen herausgefunden. Zum Beispiel hat sich das Tanzen im Vier-Schritt-Raum ohne hüpfen als besser für das Lesen lernen herausgestellt als Tanzen im Vier-Schritt-Raum mit hüpfen und auch geeigneter als die zusätzliche Ausnutzung weiterer Schrittrichtungen (vor allem diagonal). Die Kinder wenden das Gelernte sogar freiwillig auf dem Schulweg an – allerdings kommen jene mit dem individuellen Schwerpunkt „Rückwärtslaufen“ manchmal zu spät zum Unterricht. Aber wenn sie dann endlich da sind, sind sie total motiviert und beteiligen sich mit enormem Eifer am Unterricht!

Lara-Sophie staunt, als sie das liest. Was das wohl mit Musik lernen zu tun hat? Und darum geht es doch bei einem Musikprojekt, oder? Lara-Sophie überlegt, ob sie Alina vielleicht von JEKISST abmelden kann. Aber sie weiß auch, dass da eigentlich alle Kinder mitmachen müssen. Das hat die Regierung so beschlossen, damit alle Kinder ganz gerecht behandelt werden. Lara-Sophie weiß aber noch von früher, als sie ein Kind war und bei JEKI mitmachen und ein ganzes Jahr Geige im Vier-Ton-Raum lernen musste, dass sie das Lied „Stille Nacht“ erst richtig mit allen Tönen gelernt hat, als sie zusammen mit ihrem Bruder Per-Ole zusätzlichen Geigenunterricht bei Frau Hart-Zwier bekommen hat. Sie sind immer nach der Schule mit dem Bus viele Stunden zu Frau Hart-Zwier in die Musikschule gefahren und spät nachts zurückgekommen. „Unsere Oma hat sich so gefreut, als wir gelernt haben, wie man ‚Stille Nacht‘ richtig mit allen Tönen spielt“, denkt sie. Und genau deshalb hat sie auch Alina zum Geigenunterricht bei einer Privatlehrerin, Frau Weniger-Schlimm, angemeldet: Damit Alina Musik noch besser verstehen lernt als nur durch JEKISST. An der Musikschule hat Alina keinen Platz für Geigenunterricht bekommen, denn die Musikschulen machen jetzt alle bei JEKISST mit, und deshalb haben die Musikschullehrer keine Zeit mehr für Geigenunterricht. Aber wenn Alina bei Frau Weniger-Schlimm Musik lernt, macht es doch eigentlich gar nichts, wenn sie nicht mehr bei JEKISST mitmacht. Bei diesem Gedanken guckt Lara-Sophie auf die Uhr und sieht, dass sie gleich los müssen, damit sie nicht zu spät zu Frau Weniger-Schlimm kommen. Lara-Sophie bringt Alina nämlich immer hin und holt sie auch wieder ab, damit Alina mehr Zeit zum Lernen für die Schule hat.

Immer, wenn Lara-Sophie Alina zu Frau Weniger-Schlimm bringt, denkt sie an ihre eigene Geigenlehrerin, Frau Hart-Zwier, und an die alten Musikschul-Zeiten. Nun ist Frau Hart-Zwier schon fast genauso lange tot wie Oma. Frau Hart-Zwier hat das viele zusätzliche Putzen in Omas Altenheim nicht mehr geschafft und ist an einem Herzinfarkt gestorben. Aber bei ihrem letzten Treffen an Weihnachten 2025 hat sie noch ganz stolz von ihrer Nichte, Lisa Weniger-Schlimm, erzählt: dass sie auch ganz toll Geige spielen kann und schon viele Preise bei Wettbewerben gewonnen hat. Frau Hart-Zwier dachte damals, dass Lisa bestimmt auch mal Geigenlehrerin wird. Als Alina sechs Jahre alt geworden ist, hat Lara-Sophie im Telefonbuch tatsächlich eine Frau Weniger-Schlimm gefunden. Seit zwei Jahren hat Alina nun schon bei ihr Unterricht. An der Tür von Frau Weniger-Schlimms Wohnung gibt Lara-Sophie Alina einen Abschiedskuss. „Viel Spaß, ich hole dich nachher wieder ab“, sagt sie.

Manchmal unterhalten sich Lara-Sophie und Frau Weniger-Schlimm noch ein bisschen, während Alina ihre Geige einpackt. „Wie geht’s Ihnen denn so? Freuen Sie sich schon auf Weihnachten?“, fragt Lara-Sophie. „Mir geht’s super“, sagt Frau Weniger-Schlimm. „Ich habe ein tolles Weihnachtsgeschenk von der Regierung bekommen! Es sieht so aus, als könnte ich tatsächlich mal länger als vier Jahre in einer Stadt bleiben.“ „Was, Sie wohnen noch gar nicht so lange hier?“, fragt Lara-Sophie. „Nein, leider nicht“, sagt Frau Weniger-Schlimm, „ich habe ja früher hauptsächlich in JEKI unterrichtet, aber ich musste immer alle vier Jahre umziehen, nämlich immer dann, wenn eine neue Regierung gewählt wurde und die neue Regierung JEKI wieder geändert hat. JEKI-Lehrer wurden dann rausgeschmissen und mussten sich woanders neue Arbeit suchen“, sagt Frau Weniger-Schlimm. „Aber jetzt gibt es das Projekt TRUHOFA (Tralala und Hoppsassa für alle). Das gibt es jetzt in jedem Ort in ganz Deutschland, und deswegen kann ich endlich hier bleiben. Bei TRUHOFA kann jeder aus dem Ort mitmachen: Babies, Kinder, Jugendliche, Menschen mit besonderem Bedürfnishintergrund, Menschen mit geriatrischem Hintergrund und Menschen mit Migrationshintergrund. Und auch als Lehrer kann jeder mitmachen. Man muss nicht mal Musik studiert haben. Früher musste ich sogar immer irgendwelche Fortbildungen machen, aber jetzt muss ich das nicht mehr. Ich habe da auch schon meinen Bäcker und die Kassiererin von unserer Lidl-Filiale im Lehrer-Team getroffen. In dem Projekt  gehen alle ganz partnerschaftlich miteinander um und lernen voneinander durch das ‚Eine-Welt-Musik-Egal-von-Wem-Konzept‘. Man merkt gar nicht, wer wem was beibringt. Und das ist das schönste Weihnachtsgeschenk, das ich mir vorstellen kann!“

Lara-Sophie staunt. Aber sie freut sich, dass es Frau Weniger-Schlimm so gut geht. Und natürlich freut sie sich, dass Alina weiter bei ihr Geigenunterricht haben kann. Denn Alina mag Frau Weniger-Schlimm richtig gern. „Na, dann geht es Ihnen ja offenbar besser als Ihrer Tante“, sagt Lara-Sophie. „Ja, auf jeden Fall“, antwortet Frau Weniger-Schlimm, „und zum Glück muss ich nicht noch zusätzlich zum Unterrichten im Altenheim putzen. Dafür bin ich der Regierung wirklich sehr dankbar, dass sie das mit dem Putzen im Altenheim wieder abgeschafft hat, nachdem so viele Musikschullehrer am Herzinfarkt gestorben sind. Die vielen Beerdigungen waren einfach zu teuer für die Regierung. Und selbst mit Putzen hat es bei meiner Tante nicht zum Leben gereicht – sie konnte sich ja nicht mal eine eigene Wohnung leisten und musste selbst im Altenheim wohnen.“ „Ich weiß“, sagt Lara-Sophie. „Heute frage ich mich allerdings, wieso Ihre Tante sich das alles von der Regierung hat gefallen lassen? Sie war doch nicht die Einzige, der es so ergangen ist. Ich verstehe gar nicht, warum sich nicht alle Musikschullehrer gewehrt haben. Früher gab es doch dafür auch noch Gewerkschaften, wo Leute wie Ihre Tante hätten eintreten können – das war doch lange, bevor keiner mehr mitgemacht hat und sie Pleite gegangen sind. Also, das verstehe ich einfach nicht.“ „Keine Ahnung“, sagt Frau Weniger-Schlimm, „darüber habe ich mit meiner Tante nie gesprochen. Wir haben uns immer nur über Geige spielen und Konzerte unterhalten.“

Verstohlen wirft sie einen Blick auf die Uhr. „Da fällt mir ein, dass ich auch noch ganz dringend üben muss, denn ich habe am ersten Weihnachtsfeiertag ein wichtiges Konzert! Ich fürchte, ich muss Sie jetzt bitten, zu gehen.“ Da mischt sich Alina ein und bettelt: „Ach, Frau Weniger-Schlimm, wir gehen bestimmt gleich, aber bitte, bitte, spiel doch noch mal schnell vorher ‚Stille Nacht‘ für uns. Du spielst sooo schön, und ich möchte später auch mal so schön spielen wie du. Wir haben das Lied heute in der Schule bei JEKISST getanzt, aber weil wir nur vier Schritte gelernt haben, haben wir nur immer die ersten vier Töne getanzt. Ich möchte es so gern mal ganz hören. Biiiiitte!“ „Na gut“, seufzt Frau Weniger-Schlimm, nimmt ihre Geige und fängt an zu spielen. Sie spielt so schön, dass Lara-Sophie die Tränen in die Augen steigen und Alina sie mit offenem Mund anstarrt. Nachdem der letzte Ton verklungen ist, verabschiedet sich Frau Weniger-Schlimm von den beiden und bittet Lara-Sophie, das Licht ausmachen. „Was, Sie wollen im Dunkeln üben? Wieso denn das?“, fragt Lara-Sophie. „Was heißt hier ‚wollen‘?“, antwortet Frau Weniger-Schlimm, „ich muss, denn ich habe kein Geld für meine Stromrechnung. Aber darauf bin ich schon im Studium vorbereitet worden“. „Heutzutage lernen alle Studenten an der Musikhochschule ganz schnell ganz viele Stücke und Übungen auswendig, denn die meisten haben später sowieso kein Geld für Strom, und im Dunkeln kann man ja die Noten nicht erkennen.“  Lara-Sophie ist entsetzt. Aber sie will nicht unhöflich sein und Frau Weniger-Schlimm endlich üben lassen. „Komm, Alina, wir gehen jetzt“, sagt sie.

Auf der Straße hören Lara-Sophie und Alina durch ein geöffnetes Fenster wunderschöne Geigentöne. Frau Weniger-Schlimm spielt jetzt noch andere Weihnachtslieder. „Mama, weinst du schon wieder? Warum bist du denn so traurig? Ist es, weil Frau Weniger-Schlimm im Dunkeln üben muss?“, fragt Alina. Lara-Sophie seufzt: „Ach nein, Mäuschen, dafür tut sie mir zwar leid, aber das ist es nicht. Ich bin so traurig, weil Frau Weniger-Schlimm so schön Weihnachtslieder spielt. Da muss ich immer an deine Urgroßmutter, meine Oma, denken. Die hat ,Stille Nacht‘ so sehr gemocht, und ich habe sie ganz doll liebgehabt! Wir haben zuhause an Weihnachten immer alle zusammen ‚Stille Nacht‘ gesungen.“ Lara-Sophie wischt sich die Tränen ab, fasst Alina bei der Hand und geht mit festen Schritten die Straße hinunter, während die Geigentöne immer leiser werden.

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