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Nancarrow aus der Enkelperspektive: Sebastian Berweck spielt „Piano hero #1“ von Stefan Prins. Foto: Rolf Schoellkopf
Nancarrow aus der Enkelperspektive: Sebastian Berweck spielt „Piano hero #1“ von Stefan Prins. Foto: Rolf Schoellkopf
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Von Instrumenten und anderen Arbeitsplätzen

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Zum Festival „Freie Auswahl“ der projektgruppe neue musik bremen
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Das Entscheidenkönnen (und Entscheidenmüssen) ist ursächlich mit dem Begriff der Freiheit verknüpft. Freiheiten mussten (und müssen) erkämpft werden, politische wie künstlerische. Spätestens ab dem Moment ihrer Erlangung aber muss Freiheit auch ausgehalten werden. In diesem Sinne sind Auswählen und Entscheiden jene Arbeit, die die erlangte Freiheit zur permamenten Bestätigung notwendig braucht. In diesem Sinne lieferten gut zwanzig Aufführungen in fünf Konzerten des Festivals (neben vielem anderen) auch Modelle für die Funktionsweise dieser Konstruktion: „Freiheit“.

Freie Auswahl“ hatte die Bremer „projektgruppe neue musik“ die diesjährige Auflage ihres seit 1991 bestehenden, seit einigen Jahren nur noch im Zwei-Jahres-Rhythmus stattfindenden Festivals überschrieben. Mindestens drei Entscheidungsszenarios waren wahrnehmbar, die mit dem Komponisten, den Interpreten und dem Publikum jeweils einen anderen musikalischen Akteur in den Blickpunkt rückten. Das 20. Jahrhundert hat dem nachfolgenden vielleicht nicht alles, aber doch vieles freigeräumt. Gegenwärtige Musikproduktion ist weniger „Neue“ als „zeitgenössische“: So bestimmt Maximilian Marcoll in seiner „Compound“-Serie die Mischverhältnisse von außermusikalischer Wirklichkeit und kompositorischen Verfahren einerseits, jene von Instrumentalklang und Zuspiel eben aus dieser seiner Zeitgenossenschaft heraus neu. In Bremen war mit „CAR SEX VOICE HONKER“(2009) für Akkordeon und Zuspiel ein Stück zu hören, das (gewissermaßen als biographisches Zeugnis datierte) „field recordings“ in instrumentale Figuren und Verläufe übersetzte, Silke Langes Akkordeon bisweilen tatsächlich zur „Autohupe“ machte. Interessanterweise funktioniert die Verbindung (compound) von Zuspiel und Instrument beim reinen Hören besser als wenn man es tatsächliche auf der Bühne sieht. Mit „Piano hero #1“ (2011) gelingt Stefan Prins eine pointiertere musikalisch-performative Konstellation, die – gewissermaßen aus der Enkelperspektive – Nancarrows Playerpiano-Studien antippt und zugleich ganz im Hier und Jetzt verortet ist. Pianist Sebastian Berweck spielt im Verbund mit seinem Videoleinwand-Double. Mit einem Keyboard werden (Bild- und Ton-)Samples angesteuert, die ausschließlich mit der tendenziell ruppigen Bespielung eines Klavierrahmens produziert wurden – und live eben allein mit dem Sampler so schnell und abgehackt spielbar sind. Klanglich lohnenswert in den Industrial-Sound hineinragend und als Auseinandersetzung mit den Akteuren des Stücks akzentuiert durch den schönen Moment, in dem das Videobild Berweck von hinten beim Spielen zeigt – und dieser im Tremolo für einen Moment den tackernden Eigenklang des Keyboards vorführt.

Die – in vier verschiedenen Versionen von Bläserquartett mit Cellobegleitung bis Trompete solo – uraufgeführte Bläservariante aus Julio Estradas Langzeit-Serie „yuunohui“ fokussiert mit ihrer graphischen Partitur den Blick des Interpreten – ohne es ihm letztlich abzunehmen, ein eigenes Stück zu entwickeln. Allein in der formidablen, mikrotonal alles aus Mundansatz und Überblasen hervorkitzelnden Soloversion des jungen Trompeters Paul Hübner vermochte die Pauschalversion für alle Blasinstrumente gegenüber den früheren Streicher-“yuunohuis“ klanglich zu bestehen. Im videogestützten Musiktheater „Falsche Freizeit. Elektronische Arbeitsplätze für den Ruhestand“ (2011) zeigen Daniel Kötter und Hannes Seidl vier Pensionäre bei alltäglichen Verrichtungen. Sägen, Basteln, Erzählen, Maschinenbenutzung werden erst im kleinteilig-kunstvollen Arrangement zu Musik, erst in der Performance zu einer Kunst der Versunkenheit im Material. In dem der Zuschauer seinerseits versinken kann bei der Betrachtung – und sich doch um seinen eigenen Zugriffspunkt – freie Auswahl – angenehm selbst zu kümmern hat. 

Christoph Ogiermanns „inner empire“ (2011) schließlich bildete mit seinen vor den (Gesangs- oder Sprech-)Ton zurück gehenden kollektiven Lautbildungsprozessen den programmatischen Abschluss. Die exzellenten Neuen Vocalsolisten Stuttgart zelebrierten (mit einigen Einschränkungen in der improvisierten Schlusspartie) die an Carlfriedrich Claus geschulte und zugleich in ihrer Reflexion der Beschränkungen des Ausdrucks als elementare körperliche Funktion bestechende Arbeit und markierten – nach fein geäderten, mit pointiert gesetzten Brüchen und Generalpausen strukturierten Stücken von Andreas Dohmen und Iris ter Schiphorst – starke Positionen von Chormusik als unmittelbare Zeitgenossenschaft.

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