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Der Anti-Karajan - Nikolaus Harnoncourt wird 85

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Berlin/Wien - Er ist ein Revolutionär wider Willen: Nikolaus Harnoncourt hat wie wohl kein anderer das traditionelle Verständnis der Klassik hinterfragt, in Denkschubladen lässt er sich aber ungern zwängen. Lange wurde er als Schmuddelkind der Branche belächelt, seine Interpretation der Werke im Geist ihrer Entstehungszeit als Marotte abgetan. «Darmsaitenritter», «Klangfetischist» - Harnoncourt galt als «Enfant terrible» unter den Dirigenten.

Doch wenn heute Vivaldis «Vier Jahreszeiten» federleicht klingen und Bachs Weihnachtsoratorium auch ohne Weihrauchschwere die Zuhörer bewegt, ist das auch Harnoncourts Verdienst. Der 1929 in Berlin geborene und in Graz aufgewachsene Musiker wird an diesem Samstag (6. Dezember) 85 Jahre alt - seine Erkenntnisse sind aus den Konzertsälen nicht mehr wegzudenken.

Dabei weist Harnoncourt ausgerechnet jene Begriffe zurück, die mit ihm in Verbindung gebracht werden. «Historische Aufführungspraxis», «Originalklang» - so etwas gebe es nicht. «Wir wissen ja nicht, wie die Musik zur Zeit von Monteverdi oder Bach klang», sagt der Musiker im Gespräch. Helfen könne nur das Studium der Partituren.

Das macht er seit mehr als 60 Jahren. Schon als junger Cellist bei den Wiener Symphonikern unter Herbert von Karajan interessierte er sich für die sogenannte Alte Musik. Aus der Beschäftigung mit den Quellen zog Harnoncourt eine radikale Konsequenz: Mit einem eigenen Ensemble wollte er sich auf die Suche nach dem durch Tradition und Gewohnheit verschüttetem Klang begeben.

Anfang der 50er Jahre gründete er mit seiner Frau Alice Hoffelner das Ensemble Concentus Musicus, das sich zunächst der barocken Musik widmete. Dabei hinterfragte er das Bild des allwissenden Maestros und setzte auch auf den Dialog mit seinen Kollegen im Ensemble - Harnoncourt, der Anti-Karajan.

In Wiener Kreisen hieß es damals spöttisch: «Die Harnoncourts sitzen auf Apfelkisten unter ihren teuren Geigen und ernähren sich von Erdäpfeln und Salat». Seiner Frau Alice wurde Konzertmeisterin des Ensembles und kümmerte sich um die Organisation. Sie beschaffte Harnoncourt seine geliebten Holzfällerhemden in Zehnerpacks, das Paar bekam vier Kinder in acht Jahren.

Bis in die 70er Jahre spielte das Orchester noch auf handgeschriebenen Noten. In mühsamer Kleinarbeit stellte Harnoncourt das traditionelle Musizieren infrage, dieses «selbstverliebte Baden im üppigen Schönklang», wie der Dirigent Thomas Hengelbrock in einer jetzt erschienen Geburtstags-Festschrift des Berliner Konzerthauses schrieb.

Ob bei den Kantaten von Bach, den Opern von Monteverdi, die Harnoncourt wieder entdeckte - plötzlich wurde die so fern geglaubte Musik gegenwärtig. Der Mozart-Zyklus an der Zürcher Oper mit dem Regisseur Jean-Pierre Ponnelle wurde ebenso gefeiert wie Beethovens «Fidelio» in Hamburg. Harnoncourt öffnete auch den Opern-Zuhörern eine neuen Sicht auf das Repertoire. Sogar die Traditions-Hochburg Salzburg lag irgendwann auch Harnoncourt zu Füßen. Sein Buch «Musik als Klangrede» wurde eine unerlässliche Lektüre für Profi-Musiker. 

Er widmete sich dann auch der Musik des 20. Jahrhunderts, darunter Komponisten wie Alban Berg und George Gershwin. Mit seiner großen Liebe zu dem Werk Robert Schumanns konnte der immer wieder als zu intellektuell kritisierte Harnoncourt seine emotionale Natur zeigen.

Für die Musik hatte sich Harnoncourt mit 17 Jahren entschieden. Davor wollte er noch Marionetten-Schnitzer werden. Er studierte Cello an der Wiener Musikakademie und gründete ein Gamben-Quartett. Eher spät entdeckte das Musik-Establishment den lange bespöttelten Außenseiter.

Harnoncourt dirigierte Spitzenorchester wie das Concertgebouw-Orkest Amsterdam, das Chamber Orchestra of Europe, die Wiener und die Berliner Philharmoniker. Er wurde damit zum Weltstar. Als leidenschaftlicher Musiker, Lehrender und Buchautor kämpfte er um künstlerische Tiefe. Musik, schrieb Harnoncourt, sei «die Nabelschnur, die uns mit dem Göttlichen verbindet, sie garantiert unser Mensch-Sein». 

Esteban Engel und Irmgard Rieger

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