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Die Musikwirtschaft im Jahr 2010

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Einen weiten Blick in die Zukunft voraus wagte der Vorsitzende der deutschen Phonoverbände Gerd Gebhardt am 15.8.2003 auf der diesjährigen popkomm. Dabei geht es um Kopierschutz, die Ressource Kreativität, das Internet, die DVD und auch die Zukunft deutscher Künstler. Das KIZ stellt ihnen den Wortlaut dieser Keynote zur eigenen Urteilsbildung zur Verfügung. MH

P R E S S E M I T T E I L U N G

Keynote von Gerd Gebhardt, Vorsitzender der deutschen Phonoverbände, auf der popkomm am 15.8.2003.

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kollegen,

wer mittel- und langfristige Perspektiven in den Blick nehmen will, für den ist das Jahr 2005 viel zu früh. Bitte erlauben Sie mir deshalb, dass ich statt des angekündigten Ausblicks auf 2005 einen auf 2010 riskiere: Erstens enthält dieser Blick dann schon einige Jahre, und zweitens - werden meine Visionen nicht so schnell überprüfbar.

Natürlich liegt es nahe, mit einer Analyse der aktuellen Situation zu beginnen. Und es gehört auch keine große Kunst dazu, der Musikwirtschaft eine Zukunft vorherzusagen, die besser ist als die Gegenwart. In den letzten fünf Jahren hat die Musikwirtschaft in Deutschland Absatzanteile verloren.

Die Jahre 2001 und 2002 waren mit jeweils über 10% schon richtig schwierig, und die Zahlen des 1. Halbjahrs 2003 deuten mit 16,3% Absatzrückgang schon an, dass dieses Jahr eher noch schlechter ausfällt als die vorangegangenen.
Im Vergleich zu 1997 hat die Musikwirtschaft in Deutschland mehr als ein Drittel ihres Jahresumsatzes eingebüßt. Und um die Farbe noch schwärzer zu machen: Ich befürchte, dass die Talsohle noch nicht erreicht ist. Drastisch gesagt: Wir erreichen im Jahr 2003 etwa das Umsatzniveau des Jahres 1990!

Gleichwohl sehe ich bereits Licht am Ende des Tunnels. Und ich erkenne dort auch schon einige Konturen: ein ungebremst steigender DVD-Absatz, der in der Größenordnung neben die CD getreten sein wird, ein florierendes Geschäft mit Online-, Mobile- und wer weiß was für "Neuen" Medien sorgen dafür, dass Musik auch 2010 der attraktivste Medieninhalt ist.
Das Schönste aber: Die Gesellschaft wird sich im Jahr 2010 auf ihre tatsächlichen Stärke besonnen haben: die Kreativität! Und das Urheberrecht garantiert national und international, dass Künstler und Verwerter von ihrem Leistungen auch etwas haben. Dadurch schützt es die Kreativen als einen der wichtigsten Wachstumsmotoren der neuen Zeit.

Ebenso wie Patente für Erfinder schützten Urheberrechte geistige Schöpfungen, also Werke. Ganz selbstverständlich haben Komponisten und Schriftsteller und alle anderen Urheber, Rechte an ihren Werken, und Verwerter auch, weil sie in die Veröffentlichung dieser Werke viel Geld investieren: zum Beispiel Musikfirmen und Filmproduzenten. Und auf der Basis des durch Urheberrecht geschützten Werkes kann man damit auch Geld verdienen.

Das Sendeprivileg gestattet Rundfunkanstalten die Sendung von Musik, ohne dass vorher die Rechte einzeln eingeholt werden müssen, gegen anschließende Vergütung. Ein Film dagegen darf im Fernsehen nur ausgestrahlt werden, wenn die Sender vorher alle Rechte eingeholt (und auch bezahlt) haben. Warum sollte das nicht auch im Radio gehen?

Ein Land wie Deutschland lebt nicht von seinen Bodenschätzen. Weder Erdöl noch Kohle oder Diamanten sichern im Jahr 2010 als Exportschlager unsere Volkswirtschaft - es sind die Kreativen, die die Voraussetzungen für den Wohlstand von heute und von morgen schaffen. Von dieser Kreativität hängt die Zukunft unserer Gesellschaft maßgeblich ab. Es ist an der Zeit, der Kreativität die Aufmerksamkeit zurückzugeben, die sie verdient. Nicht Rohöl, sondern Gehirnschmalz ist der Rohstoff der Zukunft, und dafür treten wir ein.

Die Werke der Kreativen werden freilich in einem noch viel flexibleren Maß als heute verfügbar sein: Was heute noch in aller Regel als Tonträger gekauft wird, wird dann in einen Erwerb des Rechtes münden, ein bestimmtes Musikstück zu bestimmten Bedingungen zu allen Zeiten an allen Orten der Welt auf allen dann möglichen Abspielgeräten hören zu können. Diese Zukunft hat schon angefangen, und mit der Internetplattform "PhonoLine", die wir Ihnen gestern vorgestellt haben, sind wir auf diesem Weg ein gutes Stück vorangekommen.

PhonoLine ist in mehrerer Hinsicht ein erstaunliches Projekt: Erstmals hat sich hier, vertreten durch den Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft und seine Tochtergesellschaft PhonoNet, fast die gesamte Phonowirtschaft eines Landes zusammengetan. Neben dem umfangreichen Repertoire der Majors haben eben auch die Independents die Möglichkeit, sich hier ohne Einschränkungen zu beteiligen und das Angebot so umfangreich wie möglich zu machen. Eine gemeinsame branchenweite Plattform einer nationalen Phonowirtschaft gibt es bisher nirgends auf der Welt.

Das hat nun außerdem einen weiteren riesigen Vorteil, der die Attraktivität wesentlich ausmacht: Neben internationalem Toprepertoire gibt es über PhonoLine natürlich auch nationales Repertoire. Man wird also die Musik deutscher Künstler genauso herunterladen können wie die von Robbie Williams oder Madonna.

Mit ein wenig Stolz darf ich an dieser Stelle noch einmal feststellen, dass der Anteil deutscher Künstler an den Charts in diesem Jahr zugenommen hat. Für Album-Charts liegt er bei etwa 30%, für Singles bei über 50%! Hier zeigt sich die tatsächliche Stärke deutscher Musikfirmen: Aufbau und Stabilisierung deutscher Künstler sind das Zentrum und ihre wichtigste Aufgabe.

Das dritte herausragende Merkmal ist, dass diese Plattform offen ist für alle interessierten Handelspartner. Das ist eben kein Angebot, das man nur über einen Anbieter beziehen kann. Es war den Firmen im Gegenteil extrem wichtig, dass der Musikhandel in dieses System integriert wird. In diesem Sinn ist Phonoline ein b-to-b-Angebot: Man bekommt es auf den Webseiten von Online-Händlern. Das können viva.de oder mtv.de ebenso sein wie karstadt.de oder auch saturn.de.

Offen für alle Musikfirmen, offen für alle Händler: das ist der Ansatz für ein Konzept, von dessen Logik, Qualität und Chancenreichtum ich überzeugt bin - und von dem ich denke, dass wir auch unsere Partner und unsere Kunden überzeugen können.

Es ist ein hervorragendes Zeichen, dass die deutsche Musikwirtschaft hier in großer Einigkeit zusammensteht. Wir konnten die gemeinsame Plattform deswegen stemmen, weil die Beteiligten manche bestehenden Einzelinteressen zurückgesteckt haben, um zu einer Branchenlösung zu kommen. Es ist weltweit einmalig, dass sich eine ganze nationale Branche zusammenfindet, um den Musikfans im Internet ein umfassendes Angebot zu ermöglichen. Ich danke meinen Vorstandskollegen für den Willen, dieses Projekt gemeinsam mit T-Com gegen viele Schwierigkeiten an den Start zu bringen. Ich bin sicher, dass wir damit die Voraussetzung für einen erfolgreichen Musikvertrieb im Internet geschaffen haben.

Nun ist der Musikvertrieb im Internet sicher nur eine Säule der Zukunft der Musikwirtschaft. Und um es auch schonungslos zu sagen: Aus meiner Sicht wird er in absehbarer Zeit nicht die wichtigste werden. Schon in einigen Jahren werden mindestens 15% des Marktumsatzes erreicht werden. Dann würden wir freilich immer noch rund 85% des Umsatzes nicht im Internet generieren. Langfristig wird der Musikvertrieb im Internet auf jeden Fall die 25%-Marke erreichen.

Es sollte heute niemand mehr in die Zeiten zurückfallen, in denen uns jede Menge selbsternannter Gurus weismachen wollten, dass in Zukunft jegliches Geschäft über den Computer ginge. Deshalb sind von den vielen sogenannten Internetexperten der letzten popkomm-Jahre auch nur so wenige in diesem Jahr wieder dabei. So mancher CEO des Jahres 2000 ist heute wieder als ganz normaler Sachbearbeiter in einer der damals noch verächtlich "old economy" genannten Firma angestellt.

Das Internet gewährt uns heute allerdings schon einen Blick in die Musiknutzung der Zukunft: von jedem Ort der Welt aus zu jeder Zeit die Musik hören, die man möchte. Mobilität ist eben kein Stichwort mehr, das man ausschließlich auf Verkehr bezieht.

Fast 20 Jahre hatten wir die CD als dominierendes Medium. Heute ist längst klar erkannt, dass daneben die DVD tritt, ebenso das Medium Internet. Hochauflösende Medien wie DVD-Audio und SACD spielen eine Rolle, aber auch das Abspielen über das Mobiltelefon ist ein Weg eher der nächsten als der ferneren Zukunft.

Schon heute kann man Musikserver kaufen, die sozusagen die Musikbibliothek für das eigene Haus sind. Sämtliche Abspielgeräte greifen - evtl. drahtlos - darauf zu. Stellen Sie sich ein solches System global vor: Irgendwo ist ein Verzeichnis der Musik gesichert, die Sie gekauft haben, und Sie nehmen es in Anspruch, wann und wo immer Sie möchten.

Die entscheidende Voraussetzung haben Sie sicher gehört: Kaufen muss man auch in Zukunft, wenn man Musik hören will. Sicher wird Merchandising in den nächsten Jahren noch zunehmen, wird das Geschäft rund um Musik und Musiker vielfältiger werden. Die Vorstellung aber, dass man Musik nicht um ihretwillen kauft, sondern nur noch als Beigabe bekommt, finde ich ehrlich gesagt eher scheußlich.

Der Einsatz von Kopierschutzsystemen wird sicher zunehmen. Und die Unterstützung von Schutzsystemen durch die Abspielgeräte wird zu einem sicheren Umfeld führen, das die Kopierexzesse von heute Vergangenheit werden lässt. "Mittlerweile hat man den Eindruck, dass man mit jeder CD und jedem Rohling zugleich einen Polizisten miterwirbt, der jeden Missbrauch sofort an die Plattenindustrie meldet", lautet das Zitat aus einem Artikel in einer großen deutschen Tageszeitung in dieser Woche. Unser Thema ist offensichtlich für jede billige Stilblüte gut. Meine Antwort: Wer sich legal verhält, hat nach wie vor nichts zu befürchten.

Zum neuen Urheberrechtsgesetz und seinem Verfahren möchte ich noch einige Sätze sagen und auch hier eine Perspektive in die Zukunft wagen. Selbst für politische Menschen wie mich ist es erstaunlich, dass es tatsächlich sieben volle Jahre dauert, bis die WIPO-Verträge endlich auf der Ebene des nationalen Gesetzes angekommen sind.

Es handelte sich um einen Top-Down-Prozess, der zum Ziel hatte, die wichtigsten urheberrechtlichen Grundsätze global zu verankern und anschließend in die nationalen Gesetze zu transformieren.

Im Mai 2001 trat endlich die entsprechende EU-Richtlinie in Kraft. Weil alle Themen bereits zweimal in allen Facetten diskutiert waren, beschloss das EU-Parlament auch gleich eine Umsetzungsfrist für die nationalen Gesetze bis Ende 2002.

Die gesamte Debatte wurde dann zum dritten Mal zu mit den Parlamentariern in Deutschland geführt. Die Bundesjustizministerin plante einen großen Wurf. Doch letztlich blieb der in den Beratungsmühlen der Ministerien stecken. Um vor den Bundestagswahlen 2002 überhaupt noch weiterzukommen, wurde alles, was nicht verpflichtend geregelt werden musste, auf eine weitere Novelle vertagt: den sogenannten "zweiten Korb". Trotzdem wurde die vorgegebene Frist der EU dabei um immerhin acht Monate verfehlt. Fünf Wochen ist der Beschluss der parlamentarischen Gremien jetzt her, und das Gesetz ist noch immer nicht in Kraft, obwohl es buchstäblich nichts mehr zu entscheiden gibt.

Es gab aber auch positive Erfahrungen in diesem Prozess: So ist das Verfahren im Vermittlungsausschuss wirklich zügig gelaufen. Und immerhin ist es gelungen, auch skeptische Politiker davon zu überzeugen, dass das Urheberrecht für alle Produzenten von Inhalten ein Marktordnungsgesetz ist, das die entscheidende Voraussetzung bietet, mit Inhalten überhaupt Geld verdienen zu können. Ich zweifle allerdings, ob diese Einsichten tatsächlich so lange dauern müssen.

Zur Ehrenrettung der Verwaltungen und Parlamente sei gesagt: Deutschland ist eines der ersten Länder, die die EU-Richtlinie umgesetzt haben. In allen großen europäischen Ländern ist das Verfahren noch nicht einmal so weit gediehen wie hier: Lediglich Griechenland, Dänemark und Österreich haben bisher novellierte Gesetze.

Für den zweiten Korb und auch für spätere Novellierungen des Urheberrechtsgesetzes gilt: Wir brauchen klare Regelungen für Internetdienste, die ein individuell bestimmbares Musikprogramm anbieten, sogenannte "Near-on-Demand-Dienste". Und man wird, in Zeiten, in denen Musik allüberall verfügbar ist, fragen dürfen, für welche Zwecke Musikkopien erforderlich sind und für welche nicht. Spannende Zeiten also für die Zukunft der Musikwirtschaft.

Der ehemalige Kultur-Staatsminister Julian Nida-Rümelin beschrieb die aktuelle Situation im deutschen Radio kürzlich in der "Süddeutschen Zeitung" so: "Wir erleben einen dramatischen Verlust an musikalischer Artenvielfalt, der das Schrumpfen biologischer Arten noch weit übertrifft." Verständnis fand die Musikwirtschaft deshalb bei der Forderung nach mehr musikalischer Vielfalt im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Wer hätte vor einem Jahr an diesem Ort gedacht, dass sich sogar die Ministerpräsidenten darauf verständigen würden, mehr Vielfalt in ihren jeweiligen Ländern anzustreben? Das ist ein großer Erfolg, der auch dazu führt, dass die Rundfunkanstalten sich inzwischen immerhin gesprächsbereit zeigen und wenigstens zugeben, dass es da ein Problem gibt. Sogar der Bundespräsident hat zum Anlass der Eröffnung der Festspiele in Bad Hersfeld darauf hingewiesen, dass der jetzige Zustand musikalischer Montonie geändert werden muss - schließlich werden die Programme aus Gebühren finanziert, die jeder Radiohörer in Deutschland zahlen muss.

Was sind die Kernpunkte des Musikmarktes im Jahr 2010?
· Die multimediale DVD tritt neben die Audio-CD.
· Musik im Internet erreicht 25% des Gesamtumsatzes und trägt wesentlich zum Vertrieb von Musik bei.
· Über ein Exklusivrecht ist die musikalische Vielfalt im Radio gesichert.
· Das Urheberrecht ist das zentrale Rahmengesetz für eine Gesellschaft, in der Kreativität der Wachstumsmotor Nr. 1 ist.
· Sichere technische Umgebungen garantieren die Rechte von Urhebern und Verwertern.
· Vor allem aber wird die Musikwirtschaft auch im Jahr 2010 die Künstler im Mittelpunkt haben, und sie wird das kreative Potential präsentieren, mit dem unsere Gesellschaft das dritte Jahrtausend gestaltet.

Der bekannte Musikmanager Irving Azoff fasste diese Perspektive treffend in folgende Worte: "When all the changes are done there will be still music."

In der Tradition meiner keynote-Vorgänger verabschiede ich mich für heute.

(Es gilt das gesprochene Wort.)


Für Rückfragen: Dr. Hartmut Spiesecke, Leiter der Presse- und
Öffentlichkeitsarbeit
Tel.: 040/ 589 747-22 . Spiesecke [at] phono.de (Spiesecke[at]phono[dot]de)

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