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Hörer-Akademie-Impression. Foto: Kay Christian Heyne
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69. Sommerliche Musiktage Hitzacker – durchgetanzt!

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„Der Tanz war frenetisch, feurig, phantasievoll, vermessen, verschlingend, verbindend, vielgestalt, fordernd, philosophisch, verzückend … und viel zu schnell vorbei!“ Das documenta (13)-Motto von Carolyn Christov-Bakargiev, hier Musiktage-adäquat abgewandelt, passt wunderbar auf die diesjährige Veranstaltung, die nach neun ereignisreichen Tagen am vergangenen Sonntag zu Ende ging – und eigentlich ist damit auch schon alles gesagt.

Das Besondere am Festival ist ja, dass es sich um ein Standortfest handelt. Eingebettet in das Biosphärenreservat Elbtalaue bietet die malerische Stadtinsel Hitzacker Erholung pur, und die Musik ist der Motor des Ganzen, mit der die Musik-Fans den ganzen Tag verbringen können beim Chorsingen, dem Laienmusizieren unter Profi-Anleitung, der Hörerakademie und den Pre-Concerts der neu gegründeten Festival-Akademie; und wer nach den Abendkonzerten noch Power hat, chillt in den Late Night Lounges. Das Ganze: ein großer Tanz!

Dabei sind die Sommerlichen Musiktage mit 69 gelebten Sommern sogar Deutschlands ältestes Kammermusik-Festival. Und ja, das Silbermeer beherrscht das Parkett, und ja, es werden weniger Abos verkauft, dafür aber mehr Einzeltickets, das Haus ist mehr als 80% ausgelastet. Das Kaufverhalten ändert sich, und das zeigt schon vorsichtig einen Generationswechsel an. Und in der Tat waren diesmal mehr als sonst alle Altersgruppen vertreten: junge Eltern wussten Ihre Kleinen im „musici“-Programm betreut, die neu gegründete Festspiel-Akademie brachte studentisches Leben, und wer aus der Gegend in der „Late Night Lounge“ so richtig abgejazzt hat oder dem Tango mit Astor Piazollas Schüler Marcelo Nisinman und seiner Tango Factory erlegen ist, kommt aus Neugier auch schon mal in ein weiteres Konzert.

Carolin Widmann, Intendantin der „Sommerlichen“ und höchst erfolgreiche Geigerin auf internationalem Parkett liebt prägnante Topoi, in die auch noch die überraschendsten Rösslsprünge passen; das Thema „Tanz“ in diesem Jahr entwickelte sich zum perpetuum mobile. Musik ist immer auch Bewegung, und Bewegung führt zum Tanz – ein untrennbarer Pas de Deux, wie die Musikwissenschaftlerin Ulrike Brenning in einer der Hörer-Akademien ausführte. Wie weit der Begriff geführt werden kann, machte Carolin Widmann im Eröffnungskonzert deutlich. Solopartien aus Werken des Barock kontrastierte sie mit Werken der Zeitgenossen Ammann, Haas und Boulez, tanzte dabei mit vier Tänzern der Compagnie Sasha Waltz eine riskante Choreographie und kombinierte sich und ihr intensives Spiel mit zugesellter Live-Elektronik der IRCAM-Klangregisseure Andrew Gerzso und Gilbert Nouno – ein improvisatorisches Experiment von höchster Qualität und höchstem Unterhaltungswert.

Hier wurde gleich zu Beginn des Festivals das Profil der „Sommerlichen“ geschärft: das Alte bewahren, die Gegenwart leben und die Zukunft im Blick haben. In diesem Sinne wurde auch im II. Forum Nachhaltigkeit die Frage nach der Zukunft von Kammermusik sehr positiv diskutiert.

Überhaupt bleibt die Freude an der wachen Diskussion ein besonderes Merkmal des Festivals. Mit der Intendantin, den Künstlern und Referenten und privat in kleinen Grüppchen werden Sachverhalte hinterfragt, die zahlreichen ungewohnte Hörerlebnisse mit erstaunlicher Toleranz getragen oder auch glatt verworfen. Die Sachkenntnis ist hoch und bestärkt Carolin Widmann auch immer wieder, sehr mutig experimentelle Formate auszuprobieren und zur Diskussion zu stellen.

Insgesamt gab es in diesem Jahr neben (Vor-)Barock, Klassik und Romantik extra viel Neue Musik, Rihm, Stockhausen, Berio, Boulez, Schreker, Scelsi, Nono, Feldman, Reich, Kurtag, Volans und Gloria Coates, die zugegen war, als das famose Kaleidoskop-Ensemble ihre „Symphony No. 1, Music on Open Strings“ bravourös und auf den Stimmwirbeln tanzend, klingen ließ.

Allen voran natürlich der diesjährige Composer in Residence, der mit renommierten Preisen dekorierte Schweizer Komponist Dieter Ammann (*1962), der in der Late Night Lounge auch mal gern zur Trompete griff , auch sonst viel mitten im Gespräch mit Publikum zu finden war. Ein sympathischer Resident „zum Anfassen“. Sein nicht sehr umfangreiches Werk der Orchester- und Kammermusik ist der vergleichsweise langsamen Produktion geschuldet: mehr als ein Werk pro Jahr gibt es nicht. Dementsprechend lang ist die Auftragsschlange renommierter Interpreten. In Hitzacker zieht sich sein Werk wie ein roter Faden durch die Konzerte,  Höhepunkte setzten das Quatuor Diotima mit dem  Streichquartett Nr. 2 (2009), „Distanzenquartett“ und das Ensemble Kaleidoskop mit „Stellen für 14 Streicher“ (2008). Ammans poetischer Personalstil findet trotz oder wegen einer gewissen Nähe zum Melos große Zustimmung beim Publikum; Ammann reizt Kontraste aus und führt Dialoge im Material; es entstehen lebendig bewegte, tiefe Klangräume, in denen die musikalischen Formen plastisch aufscheinen. Ammann: „Ich versuche immer, einen Raum zu schaffen, auch wenn da eigentlich keiner ist“.

Als eins der größten Highlights kristallisierte sich der grandiose Tanzabend mit John Neumeiers Bundesjugendballett heraus – kein klassisches Ballett im Tutu gab es im bis auf den letzten Platz besetzten Haus, sondern neue Tanz-Wege, speziell choreographiert für die vier Nachwuchs-Tanzpaare der Compagnie. Eindeutiger Höhepunkt waren Strawinsky/Neumeiers Petruschka-Variationen. Hier wird der klangstarke Pianist Henning Lucius von den acht Petruschkas umtanzt, umkullert, umsprungen – einfach ein Riesen-Kick. „Für mich ist das die bisher größte Herausforderung“ bekennt der junge Hamburger. Gelungen.

Völlig überraschend neue Wege der Interpretation bot das selbstverwaltete Ensemble Spira Mirabilis, die in eigener Erarbeitung, ohne Dirigenten, in Orchesterstärke Beethovens Eroica brachten: hoch professionell, auf dem Punkt, in einem Sturm von intensivem Gestaltungswillen. Vielleicht ist das eine zukunftweisende Veränderung und Chance für sterbende Orchesterlandschaften?

Zum traditionellen Jazz-Kehraus gab es auch die Vorschau für 2015, dann feiern die Sommerlichen Musiktage Geburtstag: „Opus 70 – Das Fest“.

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