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Auf der Suche nach Freiheit des musikalischen Ausdrucks: Kammermusik von Artur Schnabel auf CD

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Wie Wilhelm Furtwängler gehört Artur Schnabel zu den Künstlern, die als Interpreten höchsten Ruhm genießen, deren Kompositionen jedoch nur einem engen Kennerkreis vertraut sind. Obwohl Schnabel keinen eigentlichen Kompositionsunterricht erhalten hat, hat er das Komponieren sehr ernst genommen.

In seinem Leben gab es mehrere Perioden, in denen er auf Konzertauftritte verzichtete, um sich ganz schöpferischer Tätigkeit widmen zu können. Mit Ausnahme der frühen Lieder für Therese Behr, seine spätere Frau, hat Schnabel aber seine Werke fast nie selbst öffentlich aufgeführt. Dies überließ er Freunden wie Carl Flesch oder Eduard Erdmann. Trotz so namhafter Interpreten stieß seine Musik nur bei wenigen Hörern auf größeres Interesse. Das änderte sich auch kaum, als sich in den 1980er Jahren Dietrich Fischer-Dieskau, Aribert Reimann und das LaSalle-Quartett für Schnabel einsetzten.

Im September 2001 unternahm die Berliner Akademie der Künste, die den Nachlass beherbergt, mit einer großen Artur-Schnabel-Werkschau einen neuen Anlauf. Das Freiburger Pellegrini-Quartett, das damals sein 5. Streichquartett vortrug, legt nun eine Aufnahme des 1915/16 entstandenen Klavierquintetts vor. Es war nach seiner Uraufführung (1918) in Vergessenheit geraten und erst neunzig Jahre später (2008) durch Irmela Roelcke und das Pellegrini-Quartett wiederaufgeführt worden, nachdem überraschend das verschollene Notenmaterial aufgetaucht war.

Ernst Krenek, ein intimer Kenner von Schnabels Kompositionen, hat dieses fast einstündige Werk im Vergleich zum vorher entstandenen „Notturno“ als rückschrittlich bezeichnet. Tatsächlich hält Schnabel, obwohl er mit den vorgeschriebenen Tonarten sehr frei umgeht, nicht zuletzt im vollgriffigen Klaviersatz hier noch am Brahms-Gestus fest. Dieser ist in eine rhapsodische Kette oft selbstvergessener Exkurse eingebettet. In drei überdimensionierten Sätzen verwirklichte Schnabel sein Ideal freien Ausdrucks, wobei der Hörer trotz der unerhört nuancenreichen Wiedergabe durch Irmela Roelcke und das Pellegrini-Quartett schnell die Orientierung verliert. Auf ein labyrinthisches Adagio (cis-moll) folgt ein tänzerisches Schluss-Rondo, das eine puppenhafte Rokokowelt beschwört. Anders als bei Schönberg oder in Ravels „La Valse“ ist hier die Welt noch in Ordnung. Nicht ganz zu Unrecht hatte Schnabel  leicht ironisch gegenüber Carl Flesch bemerkt, im Vergleich zu Schönberg seien seine Arbeiten „Salonmusik“.

Stärker thematisch durchgearbeitet ist seine 1923 entstandene „Klaviersonate“. Als Eduard Erdmann sie im September 1925 beim IGNM-Fest in Venedig zur Uraufführung brachte, stieß sie auf Skepsis. Mit ihrer Überfülle an Gedanken, die mangels Wiederholungen kaum im Gedächtnis bleiben, huldigt sie einem Expressionismus, der damals bereits als überwunden galt. Schnabel hat sich hier von jeder Taktordnung und Periodik emanzipiert. Eigentlich ist es keine Sonate, sondern eine Folge von fünf Charakterstücken – mit allerdings sehr komplexen Charakteren.

So ist der Kopfsatz mit „Leidenschaftlich, stark und sehr bestimmt; ganz frei, gar nicht schnell, immer eher zurückhaltend, doch immer noch gesangvoll“ überschrieben, und der zweite mit „Durchaus zart und schlicht, ganz ruhig, sanft, lieblich, dahinträumend, vollkommen frei“. Obwohl Irmela Roelcke die Fülle der Vorschriften bewundernswert genau umsetzte, kann sie nicht verhindern, dass die verschobenen Mixturklänge im Kopfsatz und die träumerischen Pendelbewegungen im zweiten Satz auf die Dauer gleichförmig wirken. Den stärksten Eindruck hinterließ der vierte Satz mit der Bezeichnung „Ganz langsam. Versonnen, versenkt, erdfern“. Hier beschränkte sich Schnabel endlich einmal auf eine ausgedünnte Linearität, die nach mehreren Verdichtungsphasen schließlich zur Dünnstimmigkeit zurückfindet und überraschend in D-Dur endet. Schnabel, dieser unabhängige Geist, ist damit zugleich rückwärts- wie vorwärtsgewandt.

Diese beiden umfangreichen Kompositionen werden auf der Doppel-CD durch kürzere Werke ergänzt, die interessante Einblicke geben in Schnabels musikalische Entwicklung. Die Zehn Lieder op. 11 schuf er zwischen 1899 und 1901 für die damals schon berühmte Altistin Therese Behr. Die Gedichte von Richard Dehmel, Stefan George und dem Musikaliensammler Werner Wolffheim stehen ganz im Vordergrund, während sich der damals gerade 17-jährige Tonsetzer im Klavierpart auf einfache Begleitakkorde beschränkte. Die drei Jahre später entstandenen Sieben Lieder op. 14, von der Altistin Sibylle Kamphues ebenfalls mit klangvoller warmer Stimme gesungen, zeigen Fortschritte; hier werden die Eichendorff-Gedichte stärker deklamiert und gewinnt das Klavier größere Eigenständigkeit. Von der Raffinesse eines Johannes Brahms ist der kompositorische Autodidakt allerdings weit entfernt, selbst wenn die Harmonik von Hugo Wolf und Richard Strauss beeinflusst scheint.
Dem frühesten Stadium des komponierenden Pianisten entstammen seine Drei Fantasiestücke für Klavier, Violine und Viola von 1898. Es ist ansprechende, für einen Sechzehnjährigen überraschend gekonnt wirkende Salonmusik.

Vierundzwanzig Jahre alt war Schnabel, als er seine Drei Klavierstücke op. 15 schuf, in denen er unter Brahms-Einfluss seine Satztechnik weiter vervollkommnete. Die drei Stücke sind mit „Rhapsodie“, „Nachtbild“ und „Walzer“ überschrieben. Dieselben Überschriften hätte er zehn Jahre später auch den drei Sätzen seines Klavierquintetts geben können. Indem beide Kompositionen auf einer CD aufeinanderfolgen, lassen sich Bezüge und Querverbindungen entdecken. Innerhalb von zehn Jahren ist Schnabels Phantasie viel reifer und reicher geworden, gewann seine Musik an Tiefe und Gehalt. Mit dem Drang ins Expansive und Freie hat sie allerdings auch an Prägnanz verloren.

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