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Melusine-Probenfoto. Foto: Thomas Jäger
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Das Geheimnis exponierter Töne – Aribert Reimanns „Melusine“ an der Universität der Künste Berlin

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Die UdK Berlin, an der Reimann jahrelang die eigens für ihn geschaffene Professur für zeitgenössisches Lied bekleidete, gratulierte dem Komponisten zu seinem 80. Geburtstag mit einer rundum gelungenen, professionellen Produktion seiner frühen, 1971 in Schwetzingen uraufgeführten Oper „Melusine“.

Acht Jahre vor seinem internationalen Durchbruch mit „Lear“, komponierte Aribert Reimann – ebenfalls mit Claus H. Henneberg als Librettisten – die Oper „Melusine“. Das auf einer französischen Sage und auf dem Volksbuch des Thüring von Ringoltingen beruhende Märchen wird in Yvan Golls Drama mit dem Alltagsleben des frühen 20. Jahrhunderts konfrontiert. In Reimanns Opernversion entfallen die boulevardesken Elemente des Dramas zugunsten der Psychologisierung der Hauptfiguren. Die von ihrer Mutter Madame Lepérouse mit ihrem eigenen Lover, einem Grundstücksmakler, verehelichte Kindfrau Melusine bleibt in ihrer Ehe jungfräulich. Als der wilde Park, in dem sie alltäglich spielt, verkauft wird, lässt sie sich durch Pythia unwiderstehliche Anziehungskraft auf die Männer verschaffen. Ihre Kraft behält sie jedoch nur, wenn sie sich selbst dabei nicht verliebt. Ein Geometer, ein Maurer, der Architekt des geplanten Schlossbaus und zahlreiche weitere Männer verfallen ihr, töten sich oder werden wahnsinnig. Doch Graf Lusignan, der Erbauer des Schlosses, wird ihr Liebespartner. Aus Rache bringt Pythia die Beiden in Feuersbrunst um.

Die offensichtliche Parallelhandlung zu „Lulu“ spornte den Alban Berg liebenden Komponisten an, die Reihentechnik seiner vorangegangenen Strindberg-Oper „Das Traumspiel“ aufzugeben. Der gefragte und erfahrene Sängerbegleiter komponierte sangbar, aber mit an die Extreme der Singbarkeit heranreichenden Anforderungen. Deutlich voneinander abgesetzt sind die kleinintervallig irisierende Klangwelt für Melusine, ein pompös zugespitzter, weitintervallig aufgepeppter Stil für Pythia und vorwiegend statischer Duktus für den Grafen. Metrisch verschachtelt und polyrhythmisch, spannt sich die orchestrale Bandbreite von Vereinzelung nervöser Zuckungen bis zu breitem Einsatz des Blechs; hier trifft Debussy auf Berg und Webern, gemischt mit der Inspirationsquelle indischer Musik.

Besondere Bedeutung erlangt die Neuinszenierung durch das Dirigat von Errico Fresis, der in einem lesenswerten, umfangreichen Aufsatz im Programmheft die autobiografische Ebene dieser, „Claire-Mélusine“ gewidmeten musikdramatischen Vorlage erschreckend aufschlüsselt: Melusine als ein nahezu unverstelltes Abbild von Claire Goll, die in ihrer Jugend von der Mutter so brutal gequält wurde, dass sie über deren Tod im KZ keinerlei Trauer empfinden konnte, ihre zahlreichen Männer-Beziehungen (u. A. zu Rilke, dessen Kind sie abtreiben ließ) und Amouren mit jungen Männern bis ins hohe Alter („erst mit sechsundsiebzig Jahren hatte ich meinen ersten Orgasmus“), weisen deutliche Parallelen zu Alma Mahler auf.

Die tief verwurzelte Analyse setzt Fresis mit den Brandenburger Symphonikern trefflich, nur an wenigen Stellen für die jungen Sänger dynamisch zu gewaltig um, zeigt aber auch stets die Parallelen zu Bergs Musikdrama auf – denn nicht zufällig haben Reimann und Henneberg ihre „Melusine“ als „umgekehrte Lulu“ verstanden. Über sich selbst hinaus wächst der Dirigent nach einem der schönsten Liebesduette jüngerer Musiktheaterliteratur beim aufgeladenen Zwischenspiel, dessen innere Stimmen, kommendes Unheil verkündend, hier zu den Schreckgedanken des Grafen und der inneren Stimme der Melusine werden.

Auf Künstlichkeit, mit stark verlangsamten Bewegungen, setzt die Inszenierung von Frank Hilbrich, mit teilweise gedoubelten Figuren. Ein an einem langen Faden von der Galerie aus gesteuerter, musikalisch und dramaturgisch als alter Ego der Titelpartie in seinem Aquarium bewegter Koi, wird bisweilen aus dem Glas herausgeholt, bedroht und malträtiert. Er liegt am Ende als Leiche vor den Drahtziehern des Geschehens, der Mutter (Ena Pongrac; eindrucksvollster Moment ist das Herauswürgen des Wortes „Künstler“) und ihrem Ex- Liebhaber, dem Makler Oleander (Seung Yeop Lee).

Oft wird die Mutter szenisch parallel geführt zur Melisandes „Muhme“ Pythia, einer Partie, die Martha Mödl auf den Leib geschrieben war. In dieser Partie erlebte der Rezensent die Mödl erneut in der legendären Produktion des Staatstheaters Braunschweig im Jahre 1976, in der Ausstattung von Dietrich Schoras, der daraufhin als Bühnenbildner für die Uraufführung von Reimanns „Gespenstersonate“ in Berlin gekürt wurde. In der Neuinszenierung der „Melusine“ an der UdK gestaltet die Mezzosopranistin Farrah El Dibany die Göttin mit dramatischer Schlagkraft als ein Faszinosum zwischen Pennerin und Magierin.

Die körperliche Zweiteilung zwischen Ratio und Emotio bei der leidvoll mit Verbänden eingeschnürten Melusine, noch vor dem Erlangen ihres Fischschwanzes, macht der Regisseur deutlich, indem er ihren Körper in zwei Hälften teilt, die an den Rändern des zweiten Bühnenrahmens zappeln, der Lisa Käpplers Bühnenraum auf der Drehscheibe teilt. Aus dem Schnürbodenhimmel senken sich Plastikbahnen als ein Bild von Wasser und Natur herab (wie es vor einem Jahrzehnt in Konstanze Lauterbach Bremer Inszenierung von Paul Dukas’ „Ariane et Barbe-Bleu“ erstmals zu erleben war). Auf diese Weise entsteht eine Außenlandschaft aus Plastikfolien. Die vom Komponisten auf drei Herren und drei Damen reduzierte gräfliche Gesellschaft zuckt, auf dem Boden liegend, wie Fische auf dem Trockenen und hüllt sich später gespenstisch in diese Folien um das Liebespaar zu bedrohen.

Hier ist die heute übliche Übertitelung der Texte Yvan Golls, soweit sie Reimann vertont hat und sie nicht nur melodramatisch gesprochen zum Einsatz bringt, hilfreich, insbesondere bei der Arie der Titelrolle im zweiten Akt, mit der die jugendliche Darstellerin denn doch einmal an die Grenzen ihrer Möglichkeiten zu stoßen scheint. Sopranistin Karola Sophia Schmid vollbringt als Melusine, mit dreigestrichenen d, es und f, Großartiges und vermag auch darstellerisch als lianenhaft schlangenartige Erscheinung zu überzeugen. Die hohen Töne des Architekten (Ya-Chung Huang) löst sie durch ihre Verführung aus, einen besonders exponierten Ton sinnfällig durch Druck auf sein Geschlechtsteil.

Jenes Modell, welches der Architekt mit sich führt, steht anstelle des Schlosses als ein mit Folien umwundenes Bambushäuschen mit Zugang über die Unterbühne nach der Pause im vorherigen Park. Wie ein tanzender Derwisch dreht es der Graf zunächst um sich selbst. Und dies, obgleich er offenbar behindert ist: eine Krücke ist das sichtbare Zeichen seiner geistigen Verwandtschaft zu jener Frau, die mit dem Fischschwanz auch in ihrer Laufbeweglichkeit eingeschränkt ist. Beide nehmen sich die Binden ihrer Verletzungen ab und finden zu einander – ohne sich wirklich verstehen zu können.  Das singt und spielt Jonas Böhm mit sanft fließendem, in der Höhe offenem Bariton eindrucksvoll.

Reimanns „Melusine“ hat seit ihrer Uraufführung nichts an Bühnenwirksamkeit und musikalischer Stringenz eingelöst, insbesondere da es heute, nach 45 Jahren, von jungen Stimmen mit sehr viel größerem Selbstverständnis und scheinbarer Mühelosigkeit so ausgeführt werden kann, wie der Komponist es konzipiert hatte. Die spannungsgeladene Aufführung springt unmittelbar auf das Publikum über.

Nach der dritten Aufführung dankte berechtigt stürmischer Beifall allen Beteiligten (der durchwegs doppelt besetzten Produktion) und dem anwesenden Komponisten.

 

 

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