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Händels „Alcina“ in Dresden: Barbara Senator (Ruggiero) und Amanda Majeski (Alcina). Foto: Matthias Creutziger
Händels „Alcina“ in Dresden: Barbara Senator (Ruggiero) und Amanda Majeski (Alcina). Foto: Matthias Creutziger
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Durchdeklinierte Liebesvielfalt: Jan Philipp Gloger inszeniert Händels „Alcina“ an der Semperoper

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Wann wird der Mann zum Mann? An der Dresdner Semperoper wird die alte Sangesfrage so beantwortet: Wenn er eine Krawatte trägt. Bis dahin ist er willenloses Lustobjekt. Jedenfalls auf der Liebeszauberinsel von Alcina. Das verführerische Weib lässt die bei ihr gestrandeten Mannsbilder zu Viechern werden. Eine Enklave der Libertinage. Bis die wahre Liebe Einzug hält. Und der Mann wieder zum Mann wird. Mit allen Pflichten und – Krawattenzwang.

Dresdens Semperoper setzt wieder verstärkt auf Barock. Das ging 2009 mit Händels „Giulio Cesare“ gut, funktionierte vorige Spielzeit mit Monteverdis „L'incoronazione di Poppea“ und sollte nun mit „Alcina“ von Händel fortgesetzt werden. Um es nur gleich zu sagen: Von Fortsetzung konnte am letzten Oktober-Wochenende keine Rede sein – diese Premiere hat alles getoppt.

Prima la musica – erst die Musik: Die Sächsische Staatskapelle hat ihre heutigen Hausgötter bekanntlich in späteren Zeiten als in der des Barock verankert. Das Strauss- und Wagner-Orchester hat zwar Spezialensembles für Alte Musik wie zum Beispiel die Capella Sagittariana mit hervorgebracht, dieser Händel wird aber „modern“ musiziert. Gastdirigent Rainer Mühlbach geht die Oper ganz aus dem Geist der Musik heraus an, wagt hörbar Dramatik, lässt blanke Schönheit zu, kontrastiert auch mal so schroff, wie es die Handlung verlangt. Und er hat das Glück, mit einem grandiosen Sängerensemble arbeiten zu können.

E poi le parole – und dann die Worte: Dresdens „Alcina“ wird von Jan Philipp Gloger inszeniert. Der kommt vom Schauspiel, setzte erst 2010 seine erste Oper in Szene („Figaros Hochzeit“ in Augsburg) und wird kommenden Sommer mit dem „Holländer“ in Bayreuth debütieren. Wenn er den so originell und psychologisch doch feinsinnig angeht wie die Händel-Oper von 1735, dürfte sein Durchbruch am Musiktheater perfekt sein.

Was hat er in Dresden getan? Gemeinsam mit seinem Bühnenbildner Ben Baur gelang ihm ein Hort der durchdeklinierten Liebesvielfalt. Auf der einen Seite die obsessive Libertinage der Zauberin Alcina, die inmitten aller Wollust ihrer Anverwandlungen die Liebe zu Ruggiero entdeckt. Der vergisst daraufhin Ehefrau Bradamante und empfindet sein Auserwähltsein als ehrliche Anziehung. Als Gegenpol zur insularen Freizügigkeit erscheint ihm das Familienleben mit Kind und Kegel wie Ballast. Mit dem Reich von Alcina jedoch betritt er glattes Parkett. Und nicht nur der Bühnenboden gerät leicht in Bewegung, nein, sämtliche Wände können sich auf einen Befehl Alcinas hin verschieben. Aus dem kühl weißen Empfangsraum, ganz Guckkasten, werden so erstaunlich suggestive Kammerlandschaften gezaubert, in denen ganz wenige Requisiten für stimmungsstarke Eindrücke ausreichen.

So klinisch rein das Reich der Zauberin ist, so psychisch irre sind die darin gehaltenen Männer. Nicht zu Tieren verhext sind sie hier, sondern zu geilen Kreaturen, die ihrer Herrin stets zu Diensten und zu Willen sind. Gloger gesteht seiner Titelheldin aber ein echtes Frau-Sein zu, das sie liebesfähig und somit verletzbar macht. Ihr Gegenprinzip ist Ruggieros Ehefrau Bradamante, die auf Treue setzt und nun gemeinsam mit ihrem Vater Melisso auf die Insel geeilt ist, um den Gatten wieder zu Familie und Tugend zurückzuführen. In ihrer Verkleidung als Mann zieht sie heftigste Gunst von Alcinas Schwester Morgana und tödliche Eifersucht von deren Liebhaber Oronte auf sich. Händel hat da, nach einem Libretto von Antonio Fanzaglia, ein schönes Drama mit reichlich Verwicklungspotential angelegt und es, einschließlich diverser Ohrwürmer, musikalisch adäquat illustriert. Gloger gelingt es, ein Zeitstück daraus zu formen, das Witz hat, Tragik nicht ausspart, fast immer das rechte Spieltempo findet und an keiner Stelle irgendwie aufgesetzt wirkt.

Ohne das Original zu beschaden, werden hier eine Frau zwischen Wollust und Liebe sowie ein Mann zwischen zwei grundverschiedenen Frauen gezeigt. Es geht darum, Lebensentscheidungen zu treffen. Für Bradamante ist die Sache klar, sie will den Vater ihrer Kinder zurück. Auch Alcina findet zu einer Klarheit, da sie sich ihrer Liebe zu Ruggiero bewusst wird. Berge versetzen kann sie nun aber nicht mehr. Ihre Zauberkraft ist gebrochen und die weißen Wände stehen still. Die zu Lustobjekten verkommenen Männer werden befreit, richten sich aus dem lechzenden Kriechgang allmählich auf und – tragen Krawatte, sind im Trenchcoat wieder gute Mitglieder der Gesellschaft. Besonders sinnfällig wird dies ganz zuletzt im Falle des Vaters von Oronte. Als ikonografisches Zitat vieler Diktaturen trägt der Knabe das Bild des Gesuchten vor sich her, glaubt wohl kaum noch an ein Wiederfinden. Als Alcina ihm befiehlt, die letzte verbliebene Bestie, einen Löwen, zu töten, erkennt er in dem seinen Vater – und auch der wird mit Krawatte erlöst. Da wirkt das Symbol denn doch etwas holzhämmern.

Ruggiero aber, längst wieder perfekt gekleidet, als gälte es, in der nächsten Vorstandsetage Einzug zu halten (und graue Herren à la „Momo“ und Lehman erinnern tatsächlich in einer Bildkammer an seine sonstigen Aufgaben) scheint sich seines unlösbaren Konflikts bewusst zu werden. Sein Selbstmord bedeutet einen sichtbaren Riss zwischen den Lebens- und Liebesprinzipien. Das nicht ganz perfekt gelöste Schlussbild zeigt eine gebrochene Alcina, die sich in einer Art Asservatenkammer zurückzieht und inmitten der nun nicht mehr benötigten Requisiten Platz nimmt.

Dieses Bild beschließt einen durchaus zeitgemäßen Abend der Barockoper. Einige Figuren sind gedoppelt und gespiegelt, die Psychologie deutelt geschickt, Ruggiero darf sein Alter Ego erwürgen und wird es doch nicht ganz überwinden. Alcina bekommt die Zwangsjacke übergestülpt und hat ihr vergebliches Sehnen doch längst begriffen. Bradamante aber bleibt mütterlich liebend und siegesgewiss. Die sonst so treffsichere Kostümbildnerin Karin Jud hat ihr freilich ein Outfit verpasst, als ob sie gleich zum Wandern in die Sächsische Schweiz aufbrechen wollte. Womöglich sollten damit dennoch unübersehbare körperliche Inkongruenzen überspielt werden.

Wer sich auf hörendes Sehen einlassen konnte, dürfte damit kein Problem gehabt haben. Im Gegenteil, selbst das Continuo ist dramaturgisch gezielt eingesetzt worden – hier die „modernen“ Instrumente für ein heutiges Liebesverständnis, da ganz historisch Gambe und Laute, um den überkommenen Zauber zu instrumentieren. Bis in die Sohnesrolle des Oberto wurde erstklassig gesungen. Elena Gorshunova behauptete sich beachtlich und emotional gewinnend, Markus Butter gab einen höchst konsequenten, bewusst steifen Melisso, Simeon Esper einen liebeshungrigen Oronte. Dessen Eifersucht scheint angesichts der stimmlich und darstellerisch hinreißenden Nadja Mchantaf als Morgana nur allzu verständlich. Einzig Christa Mayer als Bradamante wirkt für die Partie ein wenig zu mütterlich, ist in ihrer ausgereiften Stimmführung allerdings exzellent. Die junge Barbara Senator als Ruggiero gibt glaubhaft den Adonis und erfüllt ihn vital mit einem wenn auch nicht den Saal erschütternden, so doch blitzsauberen Mezzosopran. Die Entdeckung des Abends ist freilich Amanda Majeski als Alcina gewesen. Wie ihr das Halbdutzend an Arien gelang, nuancenreich und immer in der gebotenen Präsenz, das wird nicht so leicht zu überbieten sein. Die junge US-Amerikanerin ist neu im Semper-Ensemble, da darf auf noch manche Überraschung gehofft werden.

Weitere Termine: 1., 4., 10. November 2011, 4., 7. Juli 2012
 

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