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Ferenc Fricsay DG Vol. 1
Ferenc Fricsay DG Vol. 1
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Auf singulärem Niveau: Ferenc Fricsays sämtliche Orchesteraufnahmen für die Deutsche Grammophon

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Ferenc Fricsay, geboren 1914 in Budapest, war wie in der Generation vor ihm George Szell oder Fritz Reiner einer jener legendären ungarischen Kapellmeister, die aus der musikantischen Tradition der österreichisch-ungarischen Kultur gewachsen mit vollendetem Handwerk die Orchesterliteratur von der Wiener Klassik bis zur klassischen Moderne beispielgebend beherrschten.

Schon sein Vater Richard Fricsay war einer der populärsten ungarischen Dirigenten, und 15-jährig sprang Ferenc erstmals für seinen Vater ein. Nach Kriegsende erlebte seine Karriere einen rasanten Aufstieg in Wien und Salzburg, wo er im August 1947 bei den Festspielen für Otto Klemperer einsprang und die Uraufführung von Gottfried von Einems Erfolgsoper „Dantons Tod“ dirigierte. Ende 1948 wurde er parallel zum Generalmusikdirektor der Städtischen Oper Berlin und zum Chefdirigenten des Radio-Symphonie-Orchesters Berlin (RIAS-Symphonie-Orchester) ernannt, und die Deutsche Grammophon schloss einen Exklusivvertrag mit ihm ab. Von da an entfaltete er eine rege und maßstabsetzende Aufnahmetätigkeit.

1952 löste Fricsay seinen Vertrag mit der Städtischen Oper, 1954 gab er die Chefposition des RIAS-Orchesters auf, doch blieb er dem Orchester weiterhin eng verbunden. Er wirkte nun intensiv als Gastdirigent auch in den USA und übernahm von 1956 bis 1958 das Generalmusikdirektorenamt an der Bayerischen Staatsoper. 1958 wurde er wegen Magenkrebs operiert, und ab 1959 war er wieder Chefdirigent beim RIAS in Berlin. 1961 musste sich Fricsay weiteren Operationen unterziehen und starb im Februar 1963 in Basel im Alter von 48 Jahren.

Zu seinem hundertsten Geburtstag hat Universal Classics nun eine erste Box seiner gesamten Aufnahmen für die Deutsche Grammophon veröffentlicht, die auf 45 CDs Fricsays sämtliche Orchestereinspielungen enthält (also nicht seine Aufnahmen von Opern, Sakralmusik und Orchesterliedern, die in einer gesonderten Box herausgegeben werden). Bereits 2003 war in der Reihe „Original Masters“ ein 9-CD-Set mit dem Titel „A Life in Music“ erschienen, die besonders wegen seines Selbstportraits „Erzähltes Leben“ bemerkenswert ist, das in der aktuellen Veröffentlichung leider nicht enthalten ist.

Irritierend – und einziges Manko der neuen Veröffentlichung – ist, dass man wie beispielsweise Sony bei den alten Columbia- und RCA-Aufnahmen die originalen alten LP-Covers verwendet hat, jedoch, um Platz zu sparen, diese voller gepackt hat, wodurch sich ergibt, dass sehr oft entweder nicht drauf ist, was das Cover verkündet, oder mehr. Die korrekte Auskunft findet man jeweils auf der Rückseite. Ein informatives Beiheft mit einem Essay von Tully Potter und genauen Angaben zu allen Einspielungen mit Aufnahmedaten ist der Box beigegeben.

Das Repertoire reicht von Händel bis zur klassischen Moderne mit einem verständlichen Schwerpunkt auf dem Schaffen von Fricsays Landsleuten Béla Bartók und Zoltán Kodály, wo der Maestro sein ganzes Herzblut einfließen ließ. Den Löwenanteil der Aufnahmen bestreitet das RIAS-Symphonie-Orchester, die meisten weiteren Einspielungen entstanden mit den Berliner Philharmonikern. Ein grundsätzlicher Qualitätsunterschied zwischen den beiden Berliner Spitzenorchestern ist hier nicht festzustellen. Die Liste der Solisten liest sich beeindruckend, und natürlich ist auch hier Ungarn mächtig vertreten: Géza Anda spielt die drei Klavierkonzerte und die frühe Rhapsodie Bartóks sowie Brahms’ 2. Klavierkonzert, die rassige Annie Fischer Beethovens drittes Klavierkonzert und Konzertrondos von Mozart, Johanna Martzy das Dvorák-Violinkonzert, Tibor Varga das späte große Bartók-Violinkonzert.

Außerdem sind zu hören: die unübertroffene Clara Haskil mit Mozarts Klavierkonzerten F-Dur KV 459, d-moll KV 466 und B-Dur KV 595, die wunderbar empfindsame Erica Morini mit Bruchs g-moll- und Glasunows a-moll-Violinkonzert, Monique Haas mit Bartóks drittem Klavierkonzert und Strawinskys Capriccio, Margrit Weber mit Webers Konzertstück f-moll, Francks Symphonischen Variationen, Strauss’ Burleske, Rachmaninoffs Paganini-Rhapsodie, de Fallas Nächten in spanischen Gärten, Strawinskys Movements, den neoklassizistischen Concertini von Jean Françaix’ und Arthur Honegger sowie Alexander Tscherepnins Bagatellen op. 5, Gerty Herzog mit dem 1. Klavierkonzert ihres Ehemanns Boris Blacher, Gottfried von Einems Konzert und Frank Martins Petite Symphonie concertante (zusammen mit der Harfenistin Irmgard Helmis und der Cembalistin Sylvia Kind), Heinrich Geuser mit den Klarinettenkonzerten von Mozart und Weber (Nr. 1) sowie Strauss’ Duett-Concertino (mit dem Fagottisten Willi Fugmann), Yehudi Menuhin mit dem Tschaikowsky-Violinkonzert, Nicanor Zabaleta mit Debussys Danses, Ravel Introduction et Allegro und einem für Harfe arrangierten, bei aller Freude und Schönheit schon ein wenig in die Kitschecke geratenden Händel-Orgelkonzert (op. 4 Nr. 6) und der heute kaum noch als attraktiv zu empfindende Wolfgang Schneiderhan mit Mendelssohns e-moll-Violinkonzert.

Schneiderhan wirkt auch beim Tripelkonzert von Beethoven (mit Anda und Pierre Fournier) sowie beim Doppelkonzert von Brahms (mit dem überragenden János Starker) mit. Besondere Aufmerksamkeit verdient das urmusikantische Gastspiel des als virtuoser Unterhaltungsmusiker damals äußerst beliebten Geigers Helmut Zacharias, der Sarasates Zigeunerweisen und Jenö Hubays Csárdás Hejre Kati mit hinreißend unkonventioneller Nonchalance darbietet.

Ferenc Fricsay liebte die Musik Mozarts wie keine andere. Ich kann seinem Mozart, bei aller unbestrittenen instrumentalen Qualität, nicht so viel abgewinnen. Ein bisschen wie manchmal bei Fritz Reiner, nur noch weniger inspiriert, ist es doch allzu gewichtig pompös und quadratisch in der Phrasierung, das immer bewegliche Grundelement bleibt, wie auch das Fragile, auf der Strecke. Da kann bei seinem Haydn schon weit eher von Gelingen die Rede sein, wenngleich bei aller Präzision und Echtheit der Auffassung auch hier mehr Luftigkeit und eine weniger dem Metrum verhaftete Artikulation gut täte.

Beethoven liegt ihm schon weit besser, und zumal die Eroica kommt sowohl mit Urkraft als auch klar strukturiert und transparent daher. Gleich zwei Aufnahmen (1953 und 1959) gibt es mit Dvoráks Neunter Symphonie, und wie in Smetanas Vaterland (nicht komplett, dafür die Moldau mit den berühmten Probenausschnitten, dies ausnahmsweise vom Radio-Sinfonieorchester Stuttgart) ist der Maestro hier durchaus in seinem Element.

Tschaikowsky hingegen (die letzten drei Symphonien, darunter zweimal die Pathétique, die Streicherserenade und einige kleinere Werke) ist allzu plakativ und geradlinig verstanden, Rossini leidet unter den gleichen Schwächen wie Mozart, für Verdi und Georges Bizet gilt ähnliches, und auch Debussys fluktuierende Strukturen (Prélude à l’après-midi d’un faune) und Ravel (Boléro) sind weniger Fricsays Sache. Da ist die geistreich funkelnde gegenständliche Welt von Dukas’ Zauberlehrling weit näher an seinem handfesten Naturell. Ein quicklebendiges Vergnügen sind die Walzerfolgen und Polkas von Johann Strauß d. J., die mit echtem Wiener Sentiment und Raffinement zuzüglich etwas ungarischer Paprika zum Mittanzen animieren.

Auch wenn die Qualität der Erarbeitung weit über dem meisten steht, was wir heute zu hören bekommen: Wegen Haydn (Symphonien Nr. 44, 48, 95, 98, 100 und 101), Mozart (Symphonien Nr. 29, 35, 39, 40 und 41, Kleine Nachtmusik, Maurerische Trauermusik, Adagio und Fuge c-moll), auch Beethoven (Symphonien Nr. 1, 3, 5, 7, 8 und 9 sowie Leonore III- und Egmont-Ouvertüre), Schubert (große C-Dur-Symphonie), Schumann (Frühlings-Symphonie), Brahms (Haydn-Variationen und 2. Symphonie), Borodin, Mussorgsky, Tschaikowsky oder Rimsky-Korsakov (Scheherazade) muss man diese Box nicht unbedingt haben. Eher schon wegen des sehr souverän und sehnig dargebotenen Richard Strauss (Don Juan und Till Eulenspiegels lustige Streiche) oder den schneidig und brillant realisierten Balletten „Sacre du printemps“ und „Petruschka“ sowie dem Divertimento „Kuss der Fee“ von Igor Strawinsky.

Neben den wirklich kompetenten Aufführungen von Bartók (Konzert für Orchester, Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, Tanz-Suite, Streicher-Divertimento, Zwei Portraits sowie die Solokonzerte) und Kodály (zweimal die Hary János-Suite, die Tänze aus Galánta und aus Marosszék, und die Symphonie in C in packender Referenzeinspielung) sind es vor allem die weiteren Werke der klassischen Moderne, die bei Fricsay und seinen Musikern in besten Händen waren, und so ist diese Kompilation vor allem zu empfehlen wegen exemplarischer Aufführungen vieler heute kaum noch bekannten Werke deutscher und österreichischer Komponisten, die in den fünfziger Jahren Furore machten: Boris Blachers Paganini-Variationen (die allerdings von den erhaltenen Mitschnitten unter Celibidache überschattet werden); Rolf Liebermanns atemberaubend aberwitziges „Furioso“ und in der einfallslosen Tonalität banale Suite über schweizerische Volkslieder; Gottfried von Einems Capriccio op. 2, Zwischenspiel aus „Dantons Tod“ op. 6, Klavierkonzert op. 20 und Ballade op. 23 – allesamt meisterlich gearbeitete und sehr delikat auszuführende Partituren impressionistisch angehauchten österreichischen Neoklassizismus’; Werner Egks kleine Abraxas-Suite und hinreißend zauberhafte Französische Suite nach Rameau; Paul Hindemiths unterschätzte Symphonische Tänze; Karl Amadeus Hartmanns 2. und 6. Symphonie (die 2. Symphonie ist in einem Satz komponiert, es handelt sich nicht, wie im Booklet angegeben, um einen Ausschnitt!); zwei ziemlich unbedeutende Petitessen von Hans Werner Henze und das konjunturell ‚moderne’ Finale aus Wolfgang Fortners Symphonie von 1947.

Auch Liszt und Berlioz gehen Fricsay in ihrer effektvoll rhapsodischen Robustheit überzeugend von der Hand, kaum weniger Prokofieffs „Symphonie classique“, die noch etwas mehr Verfeinerung vertragen würde. Die große Überraschung freilich ist, erstmals auf CD, Fricsays Einspielung der 3. Symphonie von Reinhold Glière: der „Ilya Murometz“-Symphonie, jener wenige Jahre vor dem Niedergang des Zarenreichs vollendeten gewaltigen Apotheose der russischen Orchestermusik, die final noch einmal die Errungenschaften Rimsky-Korsakovs, Tschaikowskys und Tanejews zu einem übermächtigen Klangdom von unübertrefflicher Strahlkraft bündelt. Es handelt sich dabei nicht nur um die deutsche Ersteinspielung dieses magnum opus des sächsisch-stämmigen Ukrainers, sondern auch um die neben den berühmten Stokowski-Aufnahmen fesselndste, plausibelste und klangschönste Darbietung, die freilich mit den Stokowski-Fassungen den Nachteil teilt, dass auch hier eine in allen Sätzen drastisch gekürzte Version des in der Originalgestalt knapp 80-minütigen Kolosses vorliegt.

Stokowski hatte seine Kürzungen in Abstimmung mit Glière vorgenommen, und vielleicht hat sich Fricsay ja auch noch den Segen des Meisters besorgt, der 1956, ein knappes Jahr nach vorliegender Aufnahme, verstarb. Wie gesagt, die Kürzungen sind Legion in dieser Aufnahme, und wer die Partitur (die käuflich nicht zu erwerben ist) zur Hand hat, muss jeden Moment auf der Hut sein und mitspringen… Und trotzdem: das Ergebnis ist auch hier ohne Übertreibung großartig, und es wäre zu wünschen, einmal eine Aufführung des kompletten „Ilya Murometz“ hören zu dürfen, die eine ähnliche Qualität offeriert.

Fazit zur komplexen Box: die Werke des Standard-Repertoires werden auf überdurchschnittlichem, die Raritäten zu einem Großteil auf singulärem Niveau musiziert. Wer sich für Orchestermusik der klassischen Moderne ernsthaft interessiert, sollte bei Fricsays sämtlichen Orchestermusik-Aufnahmen für die Deutsche Grammophon, zumal zu diesem Preis, bedenkenlos zugreifen, und eine ganze Menge davon ist erstmals auf CD erhältlich.

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