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Chris Kolonko (Mary Sunshine). Foto: Jan-Pieter Fuhr
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Festung als Gefängnis – Das Musical „Chicago“ auf der Augsburger Freilichtbühne

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Ach, dieses Amerika! Evangelikaler Puritanismus und sexy Genderei; dumpfbackiger Provinzialismus und weltweit leuchtende Unterhaltungskultur; schießwütiger Waffenwahn und großartige Menschenrechtsphilosophie – die Dualität ließe sich lang fortsetzen. Genau diese Ambiguität greift das Musical „Chicago“ am Beispiel der „windy city“ in den 1920er Jahren auf und das Staatstheater Augsburg meldet sich damit aus der Corona-Pause zurück.

Es ist ein realer Fall, dessen Zeitungsbericht erst Dramatiker Maurine Watkins, dann Broadway-Größen wie Fred Ebb und Bob Fosse inspiriert hat: da erschießt dieses nach einer Star-Karriere süchtige blonde Girlie namens Roxie Hart einen ihrer Liebhaber; im Gefängnis trifft sie auf die damals heillos korrupten Ordnungskräfte, eine gleichsam organisierte Frauen-Subkultur mit der Showgröße Velma Kelly an der Spitze – und auf den geldgierig bedenkenlosen Anwalt Billy Flynn, der mit „All that Jazz“, mit allerlei miesen Tricks erst die sensationsgeile „öffentliche Meinung“, dann die Geschworenen dazu bringt, seine Mörderinnen frei zu sprechen – so dass alles in „Isn’t it good - grand – great – swell – fun?“, eben mit Roxie und Velma zusammen auf der Bühne und „all that Jazz“ endet – eben Amerika. Das hat Rob Marshall mit Renée Zellweger, Catherine Zeta-Jones und Richard Gere in einem umwerfend fetzigen Musical-Film oscarprämiert vorgeführt, aus dem jeder Musiktheaterfreund den „Zellenblock-Tango“ der Mörderinnen kaum vergessen kann…

Die Messlatte lag also für das Bühnenteam um den schon im Mutterleib mit Stepp-Dance infizierten Regisseur Gaines Hall hoch. Der erfahrene Bühnen„architekt“ Harald B. Thor wusste mit dem weiten, baumumstandenen Areal der Freilichtbühne etwas anzufangen: die Schießschartenfenster der Festungsmauer am Roten Tor griff er in einem großen Halbrund mit neun Gefängniszellen zweistöckig übereinander auf; durch kleine Lichtwechsel wurden die aber auch zu Showbühnen für die unter dem Gefängniskittel recht verführerische Dessous tragenden Insassinnen; davor kreiste Thors große Drehbühne und bot Tribüne, Schreibstube und Anwaltsbüro; auf der rechten Bühnenhälfte führte eine breite Showtreppe nach vorne – und wurde nicht nur vom durch den Abend führenden Conférencier auch so genutzt; daneben kreiste noch eine kleine Drehbühne für ein vielfach genutztes „Boudoir“ oder zweites Anwaltsbüro.

Damit war die Bühne nicht etwa vollgebaut – vielmehr blieb vor all dem eine bühnenbreite Spiel- und Tanzfläche. Damit begann auch eine der Wirkungsschwächen: dieser vordere Bereich wurde zwar mehrmals vom gesamten Ensemble für die „Shimmy“-tanzverrückten Chicagoer und vor allem die zur Zirkusnummer entlarvte Gerichtsverhandlung (Kostümwirbel: Aleksandra Kica) genutzt, doch sie weckte den Wunsch nach einer zahlenmäßig größeren Truppe und rückte viele der Spielszenen zu weit und ausstrahlungsärmer „nach hinten“. Hinzu kam, dass die Sound-Mannschaft den auf Abstand sitzenden Tribünenbesuchern zwar erfreulicherweise kein Rockkonzert-Dröhnen zumutete, aber gerade in den großen Tutti-Nummern doch etwas zu wenig Sound gab und auch etliche Mikrofonwechsel noch nicht so recht klappten. Auch Licht-Meister Marco Vitale dürfte mit mehr und gerne auch mal grellen Lichtspielen den Abend „vitalisieren“. Auch das musikalische Grundtempo dürfte ein bisschen zulegen.

Ein matter Abend also? Nein, dafür legten sich Katja Berg (Roxie), Sidonie Smith (Velma), Alexander Franzen (Billy) und stellvertretend für alle anderen auch Marianne Larsen (Aufseherin), Pascal Herington (Amos) und Chris Kolonko (Travestie von Society-Reporterin Mary Sunshine) viel zu beeindruckend ins Zeug. Roxies dümmliche Promi-Sucht, Velmas brüchiges Star-Image, die „Cellophan-Durchsichtigkeit“ des schlichten Roxie-Ehemanns Amos, die grelle Überdrehtheit des Conférenciers (Cedric Bradley) und der ätzend offengelegte Zynismus von Rechtsverdreher Billy – also die Gebrochenheit all dieser Glamour-Figuren blitzte auf. Justin Pambianchi leitete vom Keyboard aus die „Swing“-Besetzung der Augsburger Philharmoniker mit der Folge „Fuß-Mit-Klopfen“ – und unter einem unverändert heiter-wohlwollenden Himmel, angenehmen Temperaturen und am Sitzplatz maskenfrei atmend saß man „endlich wieder im Theater“ – Thanks!

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