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Daniel Gloger und Olivia Stahn. Foto: © Stephanie Lehmann
Daniel Gloger und Olivia Stahn. Foto: © Stephanie Lehmann
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Glissandi und Schlafgeräusche in gleißender Dunkelheit – „Lezioni di tenebra“ von Lucia Ronchetti an der Berliner Staatsoper

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Der Staatsoper Berlin gelingen in ihrer zeitgenössischen Reihe in der Werkstatt des Schillertheaters die weitaus spannenderen Abende als auf der großen Bühne, so auch mit Lucia Ronchettis Oper „Lezioni di tenebra“, die vor knapp einem Jahr im Konzerthaus Berlin ihre Uraufführung erlebt hatte. Wer nur eine weitere Spielfassung einer Barock-Oper erwartet hatte, wurde vielfältig positiv überrascht: ein organisch stimmiges, eindrückliches Klangerlebnis, das ins Ohr geht und das in einer auch szenisch faszinierenden, stimmigen Umsetzung im Gedächtnis bleibt – ein großer Abend.

Auf der Basis von Francesco Cavallis fünfstündiger Oper „Giasone“ aus dem Jahre 1649 hat die 1963 in Rom geborene Komponistin Lucia Ronchetti eine einstündige Kammeroper geschaffen. Mit einer „eigenen dramaturgischen Line“ (Ronchetti), dem Blick auf die Funktionen der Dunkelheit rund um jenes Paar Medea und Jason, das sich geliebt hat, ohne sich zu sehen, hat sie die Harmonien des lückenhaften Manuskripts von Cavalli rekonstruiert und dann ihre eigenwillig sinnfällig instrumentale Sprache darüber gelegt. Zwei Solisten, assistiert von einem Vokalquartett, schlüpfen in sämtliche Rollen. So verleiht Ronchetti der mythischen Opernvorlage aus der Renaissance des griechischen Theaters einen deutlichen Bezug zu dessen ursprünglicher Praxis. Im griechischen Theater gab es bekanntlich, außer dem Choros, zunächst nur einen einzigen Darsteller, dann einen zweiten (und später noch maximal dritten) Darsteller für sämtliche Rollen.

Konnten im griechischen Drama Protagonos und Deuterogonos während der reflektierenden Gesänge des Choros wechselnde Masken und Kostüme anlegen, so ist in Ronchettis Musiktheater keine Zeit für Umzüge; im Extremfall führen die Solisten kleinzellige Dialoge unterschiedlicher Rollenträger mit sich selbst. Die Instrumentalisten haben performative Rollen. Während Medea, im Flügel sitzend, eine Arie singt, klopfen zwei Schlagzeuger polyrhythmisch auf den Flügel, ein dritter spielt die Harmonien. Da stellen sich Assoziationen zu Pferdegetrappel ein, obgleich davon in der Szene nicht die Rede ist. Oder diese drei Musiker spielen vierhängig Xylophon, dazu Bass-Klänge auf dem Klavier. Ronchettis archaisierende Rhythmen gemahnen an die Klanggewalt der Antiken-Opern von Carl Orff. Im Gedächtnis bleibt ein Violoncello-Nachspiel aus col-legno-Glissandi. Dirigent Max Renne ist live und auf Monitoren überall zugegen; er hat die sich zwischen der Mitte des Auditoriums und der Empore bewegenden Mitglieder der Staatskapelle und der Orchesterakademie ebenso sicher im Griff, wie die souverän agierenden Vokalisten.

Glissandi zuhauf auch in den Vokalpartien. Dabei sind die unterschiedlichen Rollen der beiden multiplen Solo-Partien deutlich charakterisiert. Bei Orest gehört dazu auch eine Art komponierter Schluckauf. Zischlaute sind ein wichtiges Charakterisierungsmittel.

Zu einer Bravournummer für den Countertenor Daniel Gloger wird der Dialog zwischen Orest und Isifile. Gloger verkörpert in einem dominant weiblichen schwarzen Unisex-Gewand vornehmlich den Giasone. Die schnellen Wechsel von Bariton- und Sopranlage bewältigt er mit brillanter Stimmtechnik.

Die Sopranistin Olivia Stahn verkörpert mit dramatischer Stimmentfaltung und exzessivem Spiel neben der Medea auch noch deren Partner Egeo und den Demo. Daneben schafft das Vokalensemble von Sonia Grané, Lena Haselmann, Christian Oldenburg und Martin Gerke nicht nur Atmosphäre, sondern mit Mitteln des armen Theaters auch die Topik der Spielsituationen. Alle sechs Darsteller haben Gold wie Lehm an Armen und Füßen: schließlich handelt es sich bei diesem Personal um Mitglieder aus dem Umkreis der Argonauten, die das goldene Vlies gesucht haben. Die Soli des Vokalquartetts tragen kurze Hosen aber überlang dehnbare Ärmel, in denen Isifile gefangen wird. Sie sind die Kommentatoren der Liebe in der Dunkelheit und die Stimmen der Geister, die Medea heraufbeschworen hat.

Im Bühnenraum von Stephan von Wedel wird ein zentraler Konzertflügel von einem zunächst mitten im Raum vertikal errichteten, weißen Portal umrahmt, welches später vom Ensemble gekippt und in seine Einzelteile zerlegt wird.

Anfangs trennt ein goldener, transparenter Vorhang die Bereiche der Finsternis, in denen sich Jason und die gefangene Königstochter Medea begegnen.

Ronchettis Opernhandlung endet offen, mit der musikalisch schicksalsträchtigen Verkettung aller handelnden Personen – noch vor Heimkehr Jasons in seine Heimat und der Ermordung seiner Söhne durch Medea.

Reyna Bruns hat diese Handlung mit viel Spielfreude in wirkungsvolle Tableaus übertragen, ohne der vom Titel her nahe liegenden Gefahr zu verfallen, dem Publikum Lektionen zu erteilen. Zu den Meriten ihrer Inszenierung zählt, dass sie auch nicht an Witz spart. Wenn Jason über Abgründe reflektiert, balanciert er auf vom Ensemble verschobenen Blocks. Ein Block des Portals wird als Sargdeckel auf die hoch gereckten Füße des Demo gelegt. Und die Schlafszene von Jason und Medea ist als kollektive, eng verschlungene ineinander geschachtelte Reihe der sechs SängerdarstellerInnen zu erleben, von der Komponistin mit entsprechenden Schlafgeräuschen versinnlicht.

Inzwischen ist es ungewöhnlich, dass eine Aufführung, die im alten Italienisch und mit den altgriechischen „Oime“-Einwürfen erklingt, nicht übertitelt wird. Der deutsche Text ist zwar im Programmheft abgedruckt und die „tenebra“, die Finsternis des Kommunikation und des Schicksals, wird auf der Szene nicht so wörtlich genommen, dass es dem Zuschauer nicht möglich wäre, den vertonten Text zumindest partiell im Programmheft mitzulesen. Um die schnellen Wechsel der Handlungsträger besser nachvollziehen zu können, sind auf die Spiel-Rückwand und auf die Säulen zur Empore Namen der Protagonisten geklebt, die– unabhängig vom wirkungsstarken Lichtdesign von Irene Selka  – jeweils herausgeleuchtet, werden, wenn deren Stimme ertönt.

Gegen Ende der Handlung kratzt das Quartett die Namen der Protagonisten von der Wand.

Der rundum überzeugende, spannende Premierenabend wurde mit Recht bejubelt. „Brava“-Rufe gab es auch für die unter anderem in Berlin ansässige Komponistin. Am 9. April wird in Zürich ihre nächste Oper, ein Instrumentaltheater ganz ohne Sänger, zur Uraufführung kommen, ebenfalls nach einem antiken griechischen Stoff, der Minotaurus-Sage.

Weitere Aufführungen: 31. 1., 2., 7. 2., 27. 6., 29. 6. 2014.

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