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Shachar Lavi und Amelia Scicolone. Foto: © Christian Kleiner
Shachar Lavi und Amelia Scicolone. Foto: © Christian Kleiner
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Händelglück – „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“ in Mannheim

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Unser Kritiker Dieter David Scholz findet: „Der Barockmusiker Bernhard Forck hat mit Mitgliedern des Orchesters des Nationaltheaters Mannheims, die unterstützt wurden von Musikern der Alten Musik mit alten Instrumenten eine außerordentlich vitale wie meditativ-verinnerlichte Aufführung zustande gebracht.“ Hier nimmt er uns mit auf eine Reise durch Zeit und Raum der Musikgeschichte.

Corona fordert Opfer. Auch und vor allem von der Oper. Aber auch die Kirche forderte immer wieder Opfer von der Oper, ja verbot sie zeitweise sogar. 1667 erließ Papst Clemens IX. ein Auftrittsverbot für Frauen auf der Opernbühne. Es wurde 1686 noch einmal intensiviert. Papst Innozenz XII. ließ schließlich Ende des 17. Jahrhunderts die drei Operntheater Roms, das Teatro Tordinona, das Teatro Capranica und das Teatro della Pace kurzerhand zerstören, um dem Sittenverfall Einhalt zu gebieten und dem Glaubensverlust durch die „musica profana“ entgegenzuwirken. Das Zeitalter der „opera proibita“ war die grosse Chance der Oratorienkomponisten und des „dramma sacra“ (ein geistliches „dramma per musica“) als Alternative zur „favola in musica“. Dramatische geistliche Oratorien ersetzten Opern, bis 1717 im Teatro delle Dame wieder Oper gespielt werden durften.

Auch der 22-jährige Georg Friedrich Händel nahm die Gunst der Stunde wahr und komponierte am Beginn seiner italienischen Zeit im Jahre 1707 als Gast des Kardinals Pamphili in Rom sein erstes italienische Oratorium „Il trionfo del tempo e del disinganno“ (Der Triumph der Zeit und der Erkenntnis) auf einen Text des Kardinals. Es ist ein dramatischer Disput als ästhetisch-ethischer Diskurs zwischen vier allegorischen Figuren über Schönheit und Vergänglichkeit, an dessen Ende Tempo und Disingano triumphieren, das Vergnügen hingegen den Kürzeren zieht. Ein Thema, das vom Alten Testament bis zum Zeitmonolog der Marschallin im „Rosenkavalier“ von Strauss und Hofmannsthal seine Spuren hinterlässt.

Es geht in dem Stück, das jeder Oper das Wasser reichen kann, um die Frage, was ein gelungenes Leben ausmache. Während Piacere (Vergnügen), Bellezza (Schönheit) von der Ewigkeit ihrer Jugend und Anmut zu überzeugen versucht, führen Tempo (die Zeit) und Disinganno (die Erkenntnis, wörtlich die Ent-Täuschung) die Endlichkeit allen menschlichen Strebens ins Feld und rufen Bellezza zur Umkehr auf (siehe Kohelet 3).

Im Nationaltheater Mannheim wurde pandemiebedingt anstatt der ursprünglich anberaumten Inszenierung von Krystian Lada auf der Bühne von Anna-Sofia Kirsch eine 90-minütige Kurzfassung als szenisches Konzert gegeben. Victoria Stevens hat ein szenisches Arrangement vor heller Holzwand zu verantworten, das in seiner Schlichtheit und minimalistischen Aktion à la Bob Wilson mit bedeutungsschweren aber wenigsagenden, überhöhten Gesten und Gängen in Zeitlupe eigentlich überflüssig war. Drei schwarz gekleidete und eine weiß gewandete Figur suchen eine Aktion. Die fand in der Musik statt.

Ursprünglich sollten zwei verschiedene Fassungen gegeneinandergestellt werden: Eine eigenständige Digitalfassung, die auf NTM Digital sowie weiteren internationalen Plattformen im Internet zu sehen sein sollte, sowie eine Livefassung auf der Bühne de NTM die „in installativ-szenischer Weise“ Videomaterial mit Livemusik verbinden sollte. Das wurde einem erspart bzw. vorenthalten, man mag es so oder so sehen. Wer will, kann vom 18. Januar bis 8. März im Internet ein digitales Gegenstück zur Liveaufführung anschauen, das Krystian Lada und sein Team unter dem Titel „Il TRIONFO.HER TEMPLE“ erarbeitet haben. Es ist ein Video-Album als „zeitgenössische Meditation über die Auseinandersetzung zwischen Schönheit, Vergnügen, Zeit und Erkenntnis.“

Sie verfolgen dabei „eine Spur, die sich in Texten sowie auch in der Kunstsammlung Benedetto Pamphilis findet: in der Allegorie der Schönheit lässt sich eine in der Barockzeit vielfach dargestellte und in ihrer Ambiguität faszinierende Figur erkennen – Maria Magdalena – berühmt für ihre Doppelidentität zwischen ‚Heiler‘ und ‚Hure‘, wie im Programmheft zu lesen ist.

Acht Musikvideo-Folgen (die im Januar 2022 in Mannheim entstanden sind) sollen ausgewählte Arien und Ensembles mit Phantasien zwischen Caravaggios und einer zeitgenössischen Maria Magdalena illustriert werden, als Phantasie „einer jungen Frau“, „die vor einer tiefgreifenden Entscheidung steht.“ Um was für eine Entscheidung es sich handelt, erfährt man nicht. Sei’s drum.

Von weit mehr Belang war das Oratorium an sich bzw. dessen musikalisch-sängerische Realisierung. Der Barockmusiker Bernhard Forck hat mit Mitgliedern des Orchesters des Nationaltheaters Mannheims, die unterstützt wurden von Musikern der Alten Musik mit alten Instrumenten eine außerordentlich vitale wie meditativ-verinnerlichte Aufführung zustande gebracht. Er hat sich Zeit gelassen, eine klanglich beredte, geradezu instrumental dialogisch animierte Interpretation des außergewöhnlichen oratorischen Jugendwerks (man könnte auch sagen Geniestreichs) Händels zu verwirklichen. Mit seinen Rezitativen, Accompagnati, Solo-Ensembles, Da Capo-Arien, konzertierenden Soloinstrumenten und facettenreichen Farben und Gefühlsaffekten darf man dieses Werk als einen delikaten ersten Höhepunkt in Händels Schaffen verstehen. Nicht zu vergessen das pikante einsätzige „Concerto“ für Orgel und Streicher mit Oboen. Bei der vermutlichen Uraufführung im Theater des Collegio Clementino spielte wohl der Komponist höchstselbst, so darf angenommen werdem, die Orgel. In der Mannheimer Aufführung war es Flóra Fábri. Die Aufführung bescherte Händel-Glück nicht nur wegen der superben orchestralen Wiedergabe, sondern vor allem eines exzellenten Sängerquartetts wegen, das keinen Wunsch offenließ.

Für den Höhepunkt des Abends, den Hit des Werks, das „Lascia la spina, cogli la rosa –Lass doch die Dornen, pflücke die Rose“, das Händel gleich mehrfach vor allem in der Oper „Rinaldo“ als „Lascia ch‘io pianga“ verwendete (es ist denn auch eine seiner schönsten melodischen Eingebungen) sorgte die Mezzosopranistin Shachar Lavi (Piacere), die Sängerin der Bellezza, Amelia Scicolone verfügte über eine geradezu stratosphärische sopranistische Höhe und unfassbar schöne Töne. Aber auch der Countertenor Benno Schachtner als Disinganno und der Tenor Christopher Diffey als Tempo bewiesen vorzügliche Kunst barocken Zier- und Koloraturgesangs. Händelglück!

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