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Foto: Carole Parodi.
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Im Treibsand der Verzweiflung – „Dido and Aeneas“ im Grand Théâtre de Genève

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Wer Barockmusik mag, der wird Georg Friedrich Händel oder auch Jean Philippe Rameau für Musik- und Unterhaltungsgenies halten. Die beiden brauchen nur wenig professionelle Nachhilfe, um auch fürs heutige Musiktheater die Steilvorlage für den einen oder anderen Opernthriller zu liefern. Sei er nun politisch oder psychologisch aufgeladen. Oder ein Mix aus beidem. Für Henry Purcell (1659-1695) und seine Oper „Dido and Aeneas“ (1689) spricht da eher das Kontemplative.

Ging man mit diesem gefestigten Vorurteil an die jüngste Inszenierung dieses Werkes heran, die jetzt vom Grand Théâtre de Genève zur Premiere gebracht und als Stream live übertragen wurde, dann konnte man sich nur verwundert die Augen reiben. Über packend entfesseltes Musiktheater!
 
Wobei es natürlich ein paar Besonderheiten gibt. Franck Chartier ist nicht nur einer der Choreographen, der eben auch mal Oper machen wollte und dem die Liebesgeschichte des Trojaners Aeneas und der karthagischen Königin Dido für sein Opernregiedebüt quasi in Genf über den Weg lief. Er inszeniert tatsächlich erkennbar als Choreograph, aber ohne den Ehrgeiz (oder die Blickverengung), aus der Oper ein Ballett mit Musik zu machen. Es ist etwas Eigenes geworden. Ein Gesamtkunstwerk, bei dem die Bilderwucht der Bühne und die Ausdrucksintensität der Tänzer auf Augenhöhe mit der musikalischen Seite daherkommen. Wenn der Orchesterpart unmittelbar in den Körpern widerhallt sowieso. Aber auch, wenn gesungen wird und dazu gleichsam ein Subtext menschlichen Begehrens, von Sehnsucht nach Nähe und Verzweiflung über Trennung, nicht nur hörbar sind, sondern auch sichtbar werden.

Natürlich kommt die Spannung auch daher, dass sich Emmanuelle Haïm das Pult der Musiker des  Concert d’Astrée quasi mit dem Schöpfer einer zusätzlichen Klangebene, Atsushi Sakaï, teilt. Der unterbricht den barocken Fluss immer wieder und konfrontiert ihn mit einer eher fremdartig schrägen, manchmal betont archaischen Klangsprache. Durch die Kombination werden die 50 Minuten der titelgebenden Purcell-Vorlage auf die Länge eines „richtigen“ Opernabends verdoppelt. Der Wechsel der musikalischen Sprachen  funktioniert fabelhaft und vertieft vor allem die eher stille Klage der verlassenen Dido durch das grelle Gegenlicht einer mitunter herausgebrüllten Verzweiflung.

Mit der Einladung des 1967 geborenen Franck Chartier, der vor 21 Jahren zusammen mit Gabriela Carrizo die belgische Tanztheater-Kompanie „Peeping Tom“ gründete, zu einem Ausflug in die Opernregie hatte der Genfer Intendant Aviel Chan jedenfalls eine glückliche Hand. Das Ganze ist eine Koproduktion mit der Opéra de Lille und dem Théâtres de la Ville de Luxembourg.

Justine Bougerol (Bühne) und Anne-Catherine Kunz (Kostüme) führen uns in ein nobles, königliches Schlafgemach, dessen Vertäfelung den Luxus des 19. Jahrhunderts atmet. Rechts ein Riesenbett. Die Ursache der heftigen Bewegungen unter der Decke werden nach einer kurzen Irritation schnell als Begleitung eines Alptraumes erkennbar. Die Dienerschaft, die von der Musik regelrecht hereingefegt wird, schält eine gealterte Frau mit königlicher Attitüde aus den Laken. Man denkt unwillkürlich an die ungeschminkte alte Elisabeth I. ….

Chartier erweitert mit den Tänzern seiner Truppe (Leo de Beul, Hunmok Jung, Brandon Lagaert, Romeu Runa, Wei-wei Lee, Yi-Chun Liu, Marie Gyselbrecht sind mit von der Partie) das Bühnengeschehen ins Surreale, ins Gefühlte und Befürchtete. Mit dezent illustrierenden Choreografien  solistischer oder Gruppenszenen und exzessiven, inklusive wortwörtlich nackten Panikausbrüchen. Aber auch mit kleinen, witzigen Miniaturen. Eurudike de Beul zieht als gealterte, quasi ihrem nicht gelebten Leben nachtrauernde Dido  mit ihrem Spiel und ihrer Sprache genauso in den Bann, wie die Schweizer Mezzosopranistin Marie-Claude Chappuis mit ihrem Gesang um das Objekt ihre Liebe kämpft. Der Bariton Jarrett Ott macht als Aeneas die Zerrissenheit des Trojaneranführers zwischen seiner Leidenschaft für Dido und der Pflicht, in Italien das neue Troja zu gründen, vokal und mit einer dezenten Portion maskulinem Sexappeal glaubwürdig nachvollziehbar. Emőke Baráth überzeugt als Didos Vertraute Belinda ebenso wie Marie Lys als erste Hexe. Vor allem, dass Dido auch den Part des Geistes und einer Hexe singt, korrespondiert mit dem szenischen Spiel der Verdopplung. Auf der anderen Seite wird deren Angst-Vision eines schwer verwundeten geliebten Kriegers zu einer der packendsten Pas de deux auf einer Bühne, die sich da längst gespenstisch verwandelt hat.

Was kafkaesk mit einer herausgerissenen Steckdose begann, steigert sich zu einer wahren Flut. Durch die Fenster und die Wände dringt fast atemberaubend unaufhörlich vergoldeter Treibsand ein. Der beherrscht bald den Raum und verschlingt schließlich Dido. Da hatte sich die Rückwand längst geteilt. Das diffus gleißende Licht, das von dort eindrang, hätte vom Meer kommen können; aber wahrscheinlicher noch von den Schlachtfeldern der Zukunft. Ein sogar Grand opera taugliches Bild, das zur entsprechenden Episode von Bizets „Trojanern“ passen würde.  Fazit eines opulenten, hochspannenden Opernabends am Bildschirm: bitte mehr davon. Hoffentlich bald auch live im Opernhaus.  

 

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