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„Merchandise Medea“ im Berliner Ringtheater. Foto: Max Bohm
„Merchandise Medea“ im Berliner Ringtheater. Foto: Max Bohm
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Kritik aus der Zukunft – „Merchandise Medea“ im Berliner Ringtheater

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Das Kollektiv Menade setzt sich zum Ziel klassische Stoffe neu zu entwickeln und die Grenze zwischen Sprechtheater und Oper auszuloten. Benannt ist es nach den Anhängerinnen des Dionysos-Kult in der Antike, im deutschen Sprachgebrauch eher als Bacchantinnen bekannt. Oder auch als „Die Bakchen“: Die gleichnamige Tragödie des Euripides stellt sie als brutale Frauenfiguren dar, deren Rausch oft in einem Blutbad endet. Konsequent, dass das neue Projekt partiell auch den Text von Euripides‘ „Medea“ verwendet. Konstantin Parnian berichtet.

An der Seite des Biergartens der „Zukunft am Ostkreuz“, durch den Seitenflügel des Gebäudekomplexes und einen weiteren Hinterhof hindurch liegt der Eingang zum Ringtheater. Hinter der Tür zeigt sich ein pavillonartiger Tunnel – man zieht den Kopf ein, und betritt den mit Luftpolsterfolie ausgekleideten Theaterraum, auf dessen Boden kleine Sitzkissen ausgelegt sind. Geborgenheit mischt sich mit Künstlichkeit, Heimeligkeit mit Ausgestelltheit. Der Tunnel steht, wie sich bald erschließt, für den Gebärmutterhals. Dahinter verbirgt sich eine Welt voller unaufgelöster Widersprüche.

Außergewöhnliche Verbindungen

Während die Gäste allmählich den kleinen Saal betreten, erklingt im Hintergrund bereits elektronische Musik: ein treibender aber unaufgeregter gleichmäßiger Fluss mit stetigem Puls. Etwas dumpf, als liege noch etwas zwischen Schallquelle und Rezipierenden, umkreist der Sound von Gwen Torino das Publikum mal sphärisch mal belebter. Die Klänge kontrastieren später mit den aus Cherubinis Medea-Vertonung stammenden Arien der vier Darstellerinnen. Als kommerzialisierte Frauenfiguren präsentieren sie nacheinander in Einzelepisoden das neue Produkt „Die Frau – das Original“, eine barbiegleiche Puppe in Multifunktionsvarianten, und enthüllen gleichsam die Begründung für den Titel des Abends. Den stilistischen Gegenpol, den hier die Musik Cherubinis bildet, ergänzt eine Verschiedenheit der Zusammenkunft: Während Julia Shelkovskaja, Sunniva Unsgård und Constanze Jader mit klassischer Stimmtechnik und Opernbühnenklang brillieren, setzt Andrea Wesenberg kraftvolles Belting nach.

Überzeitliche Assoziationen

Um die nahe Zukunft könnte es sich handeln – ohne dabei die abstrakte Erzählweise zu entzaubern fällt 2025 konkret als Jahr zwischen den zahlreichen Textfetzen. Die Spracheinspielungen eröffnen teils gar einen Hörspielcharakter, evoziert durch die enorme Anregung der eigenen Fantasie – auch weil die Texte von Franziska vom Heede kongenial scharf-direkte Beschreibungen mit gewaltigen Assoziationsfeldern verbinden. Die Fähigkeit, sich nicht an konkreten Einzelheiten aufzuhalten und doch so viel Konkretes auszusagen, durchdringt die gesamte Inszenierung. Dem Team um Regisseurin Zsófia Geréb gelingt eine vielschichtige Auseinandersetzung, die sich mit keiner banalen Anklage abgibt und hierdurch differenzierter auf Problematiken verweist. Dabei spiegeln Raumkonzept und Kostüme, von Vanessa Vadineanu und Florence Klotz in Zusammenarbeit konzipiert, eben jene stets so präsenten Zwiespältigkeiten und Widersprüche, die auch durch das irritierende Spiel mit Erwartungshaltungen sichtbar werden.

Vom Leben-geben

Es ergibt sich eine Reflexion über Besitzverhältnisse, über Körper und Waren, über Objektifizierung, die die rein sexuelle Ebene übersteigt. Eindringlich aber nie übergriffig offenbart sich die künstlerische Verbalisierung eines gesellschaftlich bis heute nicht überwundenen Leidensdrucks. Die vom ersten Moment an immersive Erfahrung lässt dessen Abglanz sehr nah mitfühlen. Dem Problem zum Trotz entwickeln sich auch Züge einer utopischen Vision, eines Übergangs und einer Verarbeitung. Am Ende fühlt sich die Stückdauer von einer Stunde so kurzweilig an, dass noch reichlich Aufmerksamkeit für mehr gewesen wäre. Vielleicht in einer anderen Zukunft.

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