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Wut 2022: Odile Ettelt (Klarinette), Vera Drazic (Akkordeon), Anna-Lena Elbert (Gesang), Sebastian Rastl (Kontrabass) — Foto: © SF / Erika Mayer
Wut 2022: Odile Ettelt (Klarinette), Vera Drazic (Akkordeon), Anna-Lena Elbert (Gesang), Sebastian Rastl (Kontrabass) — Foto: © SF / Erika Mayer
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Liebliches Gebiet für ein raues Gefühl: Gordon Kampes „Wut“ bei den Salzburger Festspielen

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Die Musiktheater-Produktionen der Salzburger Festspiele sind fast immer Schlemmerfilets mit einem breiten Bouquet an Sättigungserlebnissen, in erster Linie für Erwachsene. Doch bei der Uraufführung des Auftragswerks des Komponisten Gordon Kampe mit dem Textautor und Regisseur Sebastian Bauer nach Toon Tellegen in deren Jugendprogramm jung & jede*r gibt es Trenn- und Schonkost. Dabei kann der originelle Ton-Dekonstrukteur Kampe eigentlich sehr gut mit jungem Publikum. Etwas blass ist „Wut“ noch, was sich in Folgeproduktionen leicht ändern lässt.

Manchmal zerstieben Wut und Aggressionen so schnell und leicht wie Schneeflocken in der Aprilsonne. So ist das auch in cleveren Möbel- und Elektrodiscountern, wenn das Beschwerdemanagement funktioniert, Kaputtgegangenes dort anstandslos umgetauscht wird und den Kund*innen keine zusätzlichen Kosten entstehen. So ist das auch in Gordon Kampes Musiktheater für Kinder, das Sebastian Bauer als Verantwortender für Bewegung und Bühne eingerichtet hat. Seit „Zivilcourage. Musik für einen Platz“ (2009) und „Kannst du pfeifen, Johanna“ (2013), zu der die Bayerische Staatsoper ein feines Video produzierte, zeigt Gordon Kampe (geb. 1978) Vorlieben für pädagogisch wertvolle Stoffe.

Sein neues Musiktheater „Wut“ handelt von Tieren, die ihre psychisch-physischen Eskalationen elegant weitergeben oder sonst irgendwie bewältigen, bevor sie mit bestens wiederhergestellter Psychobalance wieder zur Tagesordnung übergehen. Die erwähnten Wesen – Grille, Nashorn, Nilpferd und Kröte – stammen aus dem Bilderbuch-Kosmos von Toon Tellegen (geb. 1941, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur 2004) und des Illustrators Marc Boutavant. Auf der Spielfläche sind sie durch Wicke Naujoks‘ textile Attribute am Ensemble-Quartett oder in einprägsamen Musikgebilden von Klarinette (Odile Ettelt), Akkordeon (Vera Drazic) und Kontrabass (Sebastian Rastl) kenntlich. Bauers partizipative Stückkonzeption sieht vor, dass das Instrumentaltrio in Konversationen zu Partnern der Sängerin Anna-Lena Elbert wird. Sophie Lichtenberg, Mitarbeit Bühne, und Galina Sels, Licht, halten das Ambiente nüchtern.

Eine äußerst brave Angelegenheit ist dieses Aufräumen von negativen Gefühlen und dem recht sorgfältig geschichteten Haufen aus Wohnutensilien. In den kleinen und daher bis in die Eckritzen durchschaubaren Studio des Schauspielhauses Salzburg, dem größten freien Ensembletheater Österreichs, wird die knappe Stunde erst recht eine propere, geheimnisfreie Angelegenheit und das jugendliche Publikum gegen Ende minimal unruhig.

Das hat zwei Gründe. Erstens wird sehr viel erzählt, aber eine Spannung über Missglücken oder Gelingen wie in Kampes „Kannst du pfeifen, Johanna“ kommt nicht auf. Denn „Johanna“ hat eine ansteigende Spannungslinie Richtung Finale, zu der Kampes von ihm selbst als „unsauber“ bezeichnete Musik konterkariert und damit autonom bleibt. Dieser Kontrastwille von agiler Musik zu einer Story über die Entwicklung von Mut fehlt in „Wut“ – oder er geht in der Folge musikalischer und textlicher Satzgebilde unter.

Wut ist ja an sich, wie Menschen und Tiere jeden Alters wissen, ein Gefühl mit dramatischen Entstehungs-, Eskalations-, Explosions- und Entspannungseigenschaften. Diese aber finden in dem Stück gleichen Namens kaum statt. Der problem- und lösungsorientierte Umgang mit der Wut oder gar der Wutanlass werden nicht behandelt. So geht es einem erwachsenen Zuschauer in „Wut“ wie während einer Therapiesitzung, während der ein entscheidender Therapieanlass aus verschiedenen Gründen nicht auf‘s Tablett kommt.

Nochmal der Vergleich mit der Situation eines harmonischen Warenumtausches: Die Uraufführung und die freitonalen Klangepisoden fühlen sich an wie Waren, welche man ohne eine Spur des Bedauerns oder eines Restgefühls von Verlust zurückgibt. So ein Verlust enthält keinen Schmerz und nicht einmal das Gefühl von Leere. Musiktheater ist die Kunstform der ganz großen Gefühle. Desto größer gerät hier das Bedauern darüber, dass alle mitgedachten, aber nicht ausgedrückten oder bebilderten Wutpotenziale wie Weichmacher geraten. Durch Gordon Kampes Experimentierlust lässt sich diese affektive Windstille bei der zweiten Inszenierung ohne weiteres in eine dramatische Brise ummünzen.

Das junge Publikum kann den hier spürbaren Unterschied zwischen einmaligem Theaterartefakt und der generellen Theaternoblesse der Salzburger Festspiele in der Regel noch nicht erkennen: Für die Besucher der großen Salzburger Festspielabende geht es in diesem Jahr zwischen dem Schauspiel „Jedermann“, Orff, Bartók und dem Lesemarathon „Göttliche Komödie“ um menschliche Ereignis- und Gefühlswerte an Grenzen des Ertragbaren. Deshalb hätte „Wut“ ohne weiteres auch an einem Nebenschauplatz Dimensionen zwischen „heiligem Zorn“ und einer Wut bis zu dem dramatischen Furor steigern können, in dem Rumpelstilzchen sich bei den Brüdern Grimm selbst zerreißt. Kinder haben in der moralischen Theateranstalt den Anspruch auf große Gefühle, welche therapeutische Dosierungen überragen und an Grundfesten der Existenz rühren. Hier bleiben sie vorerst maßvoll, mäßig kompliziert und von treuherziger Lieblichkeit.

  • Besuchte Vorstellung: 2. August 2022, 15:00 – Premiere: 20. Juli, weitere Vorstellungen: 30. Juli – 7., 21. August, immer 15:00 

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