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La Bohéme in Stuttgart. Foto: A.T. Schaefer
La Bohéme in Stuttgart. Foto: A.T. Schaefer
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Lieblingsspeise Herz – Andrea Moses inszeniert Puccinis „La Bohème” in Stuttgart

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Wer immer derzeit Giacomo Puccinis „La Bohème“ an einem Stadt- oder Staatstheater im deutschsprachigen Raum neu herausbringt – er oder sie transportiert die von Henri Murgers Roman-Vorlage vorgegebene Story aus der Mitte des 19. Jahrhunderts auf die eine oder andere Weise zumindest in die Nähe unserer Gegenwart. Zuletzt tat dies Benedikt von Peter, der Operndirektor in Bremen, auf fulminante Weise.

Wer immer derzeit Giacomo Puccinis „La Bohème“ an einem Stadt- oder Staatstheater im deutschsprachigen Raum neu herausbringt – er oder sie transportiert die von Henri Murgers Roman-Vorlage vorgegebene Story aus der Mitte des 19. Jahrhunderts auf die eine oder andere Weise zumindest in die Nähe unserer Gegenwart. Zuletzt tat dies Benedikt von Peter, der Operndirektor in Bremen, auf fulminante Weise.

Dabei fokussierte er nicht auf das Leben der Bohème, sondern auf deren Kunst, das heißt die Bemühungen um sie, die im heutigen Kulturbetrieb (noch) nicht zu einträglichen Erfolgen führten. Mimi und all die anderen Figuren, die dem verzweifelt optimistischen Männerquartett begegnen, blendete er aus – er verbannte sie von der Bühne und ließ nur ihre Stimmen als Projektionen der Sehnsucht und der Realität zu. Nach dieser radikal neuen Sicht auf die theatral sehr abgenutzte Geschichte im Norden der Republik durfte man gespannt sein, was Andrea Moses im Süden mit der Bohème bewerkstelligt.

Da ist die Bohème heruntergekommen – gefühlte fünf Stockwerke. Die vier Pariser Dachgauben-Existenzen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts haben sich zu ebener Erde in einem Hinterhof in einem Mehrzweckraum eingenistet. Der ist realistisch bis in alle Details als Wohnwerkstatt und zugleich Studio eingerichtet. Da stehen Fernseher, als wollten sie repariert werden. In erste Linie aber pflegen die netten Jungs „neue Medien“, nehmen also, wann immer es sich anbietet, Video-Clips auf. In Mobiliar aus verschiedenen Sedimentschichten der Kulturgeschichte friert das kunstwillige, aber offensichtlich nur bedingt einsatzfähige Quartett. In diesem Pressspanplatten-Paris droht der Maler Marcello dem Pharao auf seinem Bild zum Auszug der Kinder Israels aus Ägypten mit dem Beil, was den alten Herrn aber nicht erkennbar beeindruckt. Die cholerischen Schläge bescheren nur der Kunst einen kleinen Verlust. Was aber den Handel wie die Museumslandschaft nicht wirklich empfindlich treffen dürfte.

Mit munterem Rollenspiel ironisieren die Vier ihre prekäre Situation. Dem Literaten Rodolfo fällt für den Leitartikel, den er rasch in den Laptop tippen will, erwartungsgemäß nichts ein. Die kitschverdächtigen schönen Stellen, die sich mit dem Herantasten von Mimi an Rodolfo eröffnen, inszeniert Andrea Moses dann effektsicher als Episoden einer Reality-Show. Die Protagonisten gerieren sich, als wären sie Peter Alexander und René Kollo beziehungsweise Catharina Valente und Song-Contest-Kandidatin in einem. Der Schmelztenor Atalla Ayan gibt sich so erfolgsgewiss, dass der Erfolg einfach gewiss sein muss und einige ältere Damen zum Schlussapplaus auch spontan für ihn aufspringen.

Die Mimi, mit der sich die Liebe auf den ersten Griff einstellt, signalisiert Migrationshintergrund. Pumeza Matshikiza kommt für dieses französisch-italienische Stück aus dem 19. Jahrhundert im 21. nicht nur von der Gegenküste des Mittelmeers, sondern aus dem noch viel südlicheren Afrika: eine überzeugende jugendliche Liebhaberin, deren Leiden und Sterben von der Videokamera festgehalten und groß projiziert wird. Das ist eine plausible Grundierung einer Produktion, die mit optischen Affekten wahrlich nicht geizt.

Fürs Pariser Weihnachtsfest bot der Ausstatter Stefan Strumbel auf, was grell bunt und schreiend werbewirksam ist – das Rudel Kinder ist ein Running-Reklame-Gag für Jugendmoden, das Café Momos ein nostalgisches Überbleibsel in der Einkaufsmeile, die ein riesiger Christbaum schmückt. An seiner Spitze der Stuttgarter gute Stern auf allen Straßen. Und, als wäre damit nicht schon deutlich genug gezeigt, wem die Stadt gehört, die (gloria in excelsis) vom Werbebanner verkündete froheste aller frohen Botschaften: „Heilig’s Blechle“ (allerdings und vermutlich von einem Reingschmeckten falsch geschrieben). Eine Kapelle von Eisbären und Schneehasen heizt neben dem kinderbuchgerechten Schneemann die Stimmung in der Fußgängerzone an.

Auch der dritte Akt atmet die Luft von Lokalkolorit. Das Puff von Musetta, deren Lieblingsspeise Herz ist, könnte es so oder so ähnlich auch an einer Straßenecke südlich der Leonhardskirche geben. Und wenn der Blick zum trostlosen Ende Mimis wieder zurück ins Elendsquartier der Bohème gehen muss, dann hat sich das nicht nur diskret verändert: Es wurde ausgemistet und aufgeräumt, das Mobiliar modernisiert und ein „Tag des offenen Ateliers“ anberaumt. Die Jungkünstler haben gelernt, sich zu vermarkten und gehen als Happening-Akteure ihrem Frühling im Kulturbetrieb entgegen. Das ist tröstlich. Denn mit dem Tod Mimis gelingt dem Video-Künstler-Duo Anne Bolick und Adrian Langenbach ein starker Moment: Das zum Standbild erstarrte Konterfei verblasst, erblasst in einer ganz unmittelbar verständlichen Weise.

Die Regisseurin Andrea Moses hat die Aktualisierung des scheinhaften Glücks und der elenden (Be-)Dürftigkeit der Bohème durchaus im Visier gehabt. Ihr Blick auf die Nachwuchskünstlerschaft orientiert sich mehr an der Nach-Wende-Generation, nicht an den kontemporären Hungrigen und Prekären im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts. Es ist der Frische-Impuls von vorgestern, der dem Schmunzeln der TheatergängerInnen preisgegeben wird. Ein Wurf, der nachhaltig in Erinnerung bleiben könnte, ist ihr zur Krönung der Stuttgarter Tätigkeit nicht gelungen. Aber immerhin eine schmucke Arbeit, die der Geschmacksträgerschicht dem Beifall zufolge zusagte – wie auch das inspiriert beginnende, dann aber wieder in alte Puccini-Unarten (wie überzogene Rubati etc.) ausgleitende Dirigat von Simon Hewett. Kurz und gut: Es war schön und teuer. Aber nun soll wohl mit derart Operntainment in der Schwabenmetropole erst einmal Schluss sein.

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