Hauptbild
 Wioletta Hebrowska (Kate Julian), Johan Hyunbong Choi (Owen Wingrave). Foto: © Jochen Quast
Wioletta Hebrowska (Kate Julian), Johan Hyunbong Choi (Owen Wingrave). Foto: © Jochen Quast
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Lübeck: Benjamin Brittens „Owen Wingrave“, ein szenischer Abgesang an eine militante Welt

Autor
Publikationsdatum
Body

Das Werk, das in Lübeck die Spielzeit eröffnete (3. und 5. September 2021), macht nachdenklich. Aufgeführt wurde „Owen Wingrave“, Benjamin Brittens Oper von etwas über zwei Stunden Dauer. Sie ist nicht nur musikalisch bemerkenswert, durch die reduzierten Mittel auf eine ganz eigene Art packend, sie ist vor allem inhaltlich ungewöhnlich aktuell.

Sie ruft gleichzeitig Vergangenes wach, Zeiten mit schlimmen Erfahrungen, sie ruft auch Erinnerungen hervor von nie endenden Diskussionen über pazifistische Fragen. Wie sind Kriege zu vermeiden, ist Militär notwendig und welche Folgen haben Einsätze für Psyche und Physis für den Einzelnen und für eine Gesellschaft?

Sprachlos macht aktuell das unrühmliche Ende des Afghanistan-Einsatzes, von den Amerikanern als Rachefeldzug begriffen, von den Europäern als Hilfseinsatz kaschiert. Politik muss Antworten finden, kann Kunst dabei helfen? Das Theater Lübeck machte einen Versuch dazu. Schon vor Beginn der Vorstellung war ein 2500 Jahre alter Text des chinesischen Philosophen Mozi auf dem Vorhang zu lesen, ein Plädoyer gegen „Angriffskriege“ und damit gegen befohlenes Töten. Der Schlusssatz ist: „Was die Angelegenheiten des Rechts und Unrechts anbelangt, sind die Weltherrscher daher ratlos.“

Ein versöhnliches Requiem

Für Britten gab es 1942 noch eine andere Lösung, eine rechtsstaatliche. Als er nach drei Jahren in den USA nach England zurückkehrte, konnte er sich als Kriegsdienstverweigerer anerkennen lassen. Das schützte den damals 29-Jährigen davor, mitten im Krieg eingezogen zu werden. Eine Lösung war das für ihn, wäre das auch eine Lösung für alle? Mit seinem „War Requiem“ fand er 1962 eine weitere Antwort, eine künstlerische. Weithin wird sie gehört. Ihr Text mischt Passagen aus der Liturgie mit Gedichten von Wilfred Owen. 1918 war der Lyriker in Frankreich gefallen, mit 25 Jahren. Im Programmheft zum Lübecker „Owen Wingrave“ ist sein Gedicht „Befremdliche Begegnung“ abgedruckt, in dem er vor der „Erbärmlichkeit des Krieges“ warnt.

Brittens Komposition schlich sich in pazifistisch denkende Köpfe, erklang erstmals zur Wiedereröffnung der Kathedrale in Coventry und erreichte das, was sie wollte. Sie wollte zwei Länder miteinander versöhnen, das eine, wo im November 1940 vor allem Coventry durch Luftangriffe beklagenswert zerstört wurde, mit dem anderen, das zwei Jahre später zu Palmarum die Rache der Engländer erlitt. Lübeck traf sie schwer, Wohnquartiere und mehrere Kirchen dort. Das „War Requiem“ ist auch in der alten Hansestadt wiederholt aufgeführt worden.   

Wilfred Owen hat nur so viel mit Benjamin Brittens Oper zu tun, als dass beide Pazifisten im Geiste sind, der Lyriker und die Titelfigur von Brittens vorletztem Bühnenwerk. Der erklärte dort in einer erregten Debatte mit General Sir Philip Wingrave, seinem Großvater, Krieg sei Verbrechen. Britten fand das in einer Novelle aus dem Jahre 1892. Sie wurde Grundlage für das Libretto. Ihr Autor ist Henry Jones, der die englische Gesellschaft seiner Zeit vor Augen hatte, eine standesbewusste, moralisch rigide Schicht. Ihr Denken kreist um absolute Disziplin und um ein persönliches Opfer für das Vaterland. Das allein versprach Ehre, für sich, für die Familie und für die militärische Einheit, der sie angehörten. Nicht nur die Männer waren dem unterworfen, ebenso die Frauen, deren Ehepartner oder Söhne im Krieg umkamen. Stolz vertreibt Tränen.

Eine feinsinnige Vorlage für das Libretto …

Henry Jones erzählt von Owen, einem, der ausbricht, nicht mehr folgen will. Sein Familienname  Wingrave verrät seine Bestimmung, er soll „das Grab gewinnen“. Sein Vater ist in Indien in Erfüllung seiner Vaterlandspflicht durch den Säbel eines Afghanen (!) getötet worden. Nun erwartet seine adlige Familie, dass er der Familientradition folgend die Offizierslaufbahn einschlägt. Etwas anderes ist undenkbar. In einer spannenden Anfangsszene erlebt man ihn zusammen mit seinem Jugendfreund Lechmere bei einer Übung in der Kriegsakademie. Ihr Auftrag: als Feind gekennzeichnete Puppen sind mit dem Bajonett zu erstechen. Der Freund erledigt das gleichgültig, während Owen sich vorstellt, er müsse einen Lebenden töten. Er merkt, dass er das nicht kann und konsequenterweise die Ausbildung abbrechen muss. Er verkündet das seinem „Lehrherrn“ Spencer Coyle und bittet ihn, seinen Entschluss der Familie in Paramore mitzuteilen. Deren Reaktion führt dazu, dass Owen sich in dem Stammsitz der Wingraves einer Phalanx von Entschlossenen gegenübersieht, die ihn um jeden Preis umstimmen will: Miss Wingrave, eine Tante, gehört dazu, seine Verlobte Kate zusammen mit ihrer Mutter Mrs. Julian und der dort wohnende prinzipienstarre Großvater. Selbst sein leichtlebiger Freund Lechmere und Spencer Coyle mitsamt Gattin sind eingeladen, insgesamt ein dramatisch ergiebiges Gemenge von Positionen.

… feinsinnig umgesetzt

Die Mitwirkenden sind nicht nur gesanglich gefordert, mehr noch als Charakterdarsteller. Gerard Quinn verkörpert mit seiner Rolle als Ausbilder Spencer Coyle eine feste, doch nicht steife Würde, die zugleich Verständnis für den jungen Owen deutlich macht. Seine warmherzige Frau ist von der unbeugsamen Traditionslast des Hauses abgestoßen. Evmorfia Metaxaki gestaltet sehr fein, wie sie zum Gegenbild zu der schneidenden Kälte der dem Hause verbundenen Damen wird. Eine Schlüsselszene ist der Empfang von Owen und großartig inszeniert (Stephen Lawless und Steven Lehmann). Als Tante und Ersatzmutter, die leibliche war im Kindbett gestorben, fordert Sabina Martin vor allem Respekt, den für Familie und Tradition. Als unnahbar gibt sich seine Verlobte Kate, die Wioletta Hebrowska trotz ihres warmen Mezzos zerrissen darstellt. Sie möchte einerseits Owen nicht verlieren, begegnet ihm andererseits hartherzig, nur auf ihre erhoffte gesellschaftliche Stellung als Offiziersgattin bedacht. Die Dritte, ihre Mutter Mrs. JuIian, legt alles an, die Tochter standesgemäß unter die Haube zu bringen. Ihren naiven Charakter, der einer eher komischen Figur, macht Andrea Stadel zu einer munteren Koloraturstudie. Unter den männlichen Figuren verschafft mit kräftigem Bass Wolfgang Schwaninger dem Sir Wingrave Gehör, der rigoros den Enkel verdammt, während Yoonki Baek mit seinem geschmeidigen Tenor den charakterlich falschen Lechmere zeichnet. Er wird vom Freund zum Rivalen um Kates Gunst und damit immer mehr zum Gegenbild von Owen Wingrave. Diesen gestaltet Johan Hyunbong Choi und liefert hier ein beeindruckendes Bild eines großen Charakters, dem erst nach seinem Tod tragische Anerkennung widerfährt.

Nicht nur Spuk

Auch wenn die Erzählung von Henry James dem Realismus zugeordnet wird, mischt sich doch Spukhaftes ein. Es sind unaufgeklärt gebliebene Umstände bei einer Tat eines Ururahnen, der zum Kindsmörder wurde. Sein Motiv war übersteigerte Erwartung. All das bleibt nicht Erzählung, wandelt sich vielmehr zum Handlungsmotiv mit kathartischer Wirkung.

Fazit

Die bedrückende Wirkung unterstützt das Bühnenbild (Ashley Martin-Davis) mit fahlen Farben und unwirklichen Projektionen. Wandelbare Kulissen ermöglichen, sehr schnell und glaubhaft Ort und Zeit zu wechseln. Liebevoll ausgestaltete Kostüme ergänzen das Bild. Wichtigstes Moment aber ist die Musik. Stefan Vladar, GMD und Operndirektor, beweist, dass er für die unaufdringliche wie ausdrucksstarke Musik Brittens ein großes Gespür hat. Er inspirierte die Sänger und die Lübecker Philharmoniker im Graben zu einer überzeugenden Gesamtleistung.

Viel Beifall gab es bei der Premiere für eine nachdenklich stimmende Produktion am Lübecker Theater!

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!