Hauptbild
Anja-Nina Bahrmann (Antonia), Josef Wagner (Lindorf/Coppelius/Doktor Mirakel/Dapertutto). Foto: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien
Anja-Nina Bahrmann (Antonia), Josef Wagner (Lindorf/Coppelius/Doktor Mirakel/Dapertutto). Foto: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Phantastischer Oktober in Wien – Offenbachs „Hoffmann“ an der Volksoper, Glucks „Armide“ an der Staatsoper

Publikationsdatum
Body

Auf die als Introduktion üblichen Orchesterschläge folgt erst einmal eine Unterbrechung. Der Teufel gebietet Ruhe und klagt über die Grenzen seiner Macht. Es gelinge ihm einfach nicht, verkündet er, Offenbachs „Contes d’Hoffmann“ wieder aus der Welt zu schaffen. Dabei habe er für den Tod des Komponisten vor der Fertigstellung des 5. Akts gesorgt, für eine sinnentstellende Bearbeitung im Vorfeld der Uraufführung im Februar 1881 und für den Brand des Ringtheaters bei der zweiten Wiener Vorstellung von „Hoffmanns Erzählungen“ im Dezember 1881 (384 Tote).

Auch weiters habe er sich redlich Mühe gegeben, die unter die Erben aufgeteilte Partitur in alle Winde zu zerstreuen und das Orchestermaterial beim Brand der Opéra-Comique in Paris 1887 verschwinden zu lassen. Dennoch hat sich „Hoffmann“ mit den Hinweisen auf sein diabolisches Wirken, Existenzrecht auf den Bühnen erobert und allen Widerständen zum Trotz behauptet.

Josef Wagner sagt’s, bevor er vorzüglich singt, und entschwindet in die Kulisse: in das von den Folgen eines Großbrandes schwer gezeichnete Theater auf der Bühne. Von dannen er wiederkommen wird in den Gestalten der vier ‚Bösewichte‘ – als intriganter Rat Lindorf, als Holländischer Instrumentenhändler Coppelius, als sadistischer Dr. Mirakel, als venezianischer Kapitän und Pate Dapertutto. Ein verkohltes Theater könnte sich durchaus als plausible Spielstätte für eine „Hölle auf Erden“ erweisen, zu der das Dasein für den genialischen deutschen Dichter und Meistertrinker Hoffmann wird – halb durch die eigene Triebhaftigkeit, halb durch den stets siegreich bleibenden Gegenspieler. Aber die Zeichen der Katastrophe kommen der Bühnenausstattung von Akt zu Akt abhanden. Sie werden erst zugestellt von grellen Symbolen einer „Höllenbar“, dann so gut wie vergessen gemacht vom nicht minder grellbunten Festtreiben im Hause des Professors Spalanzani, weiters überformt von gefrorenem Löschwasser in der Wohnung des Geigenbauers Krespel. Das starre Weiß hüllt Kronleuchter, Balustraden und sogar den Flügel ein. Bei der nicht minder mit bunten Fantasy-Kostümen bespielten Party an der Lagune von Venedig sind die Spuren des Unglücks vollends entrückt.

Jacques Offenbachs Opéra-fantastique vermochte bis heute keinen festen Werkcharakter annehmen, sondern blieb ewige Baustelle. Diese und die Kommentierung von zentralen Aspekten der Nachwirkung miteinander zu verschränken, erscheint als reizvolle Exposition einer hintersinnigen Inszenierung. Allerdings bleibt die Durchführung aus – und selbst bei der Reprise der Rahmenhandlung im 5. Akt lässt der Regisseur Renaud Doucet die Gelegenheit aus, sich der Katastrophen der Rezeptionsgeschichte zu erinnern, die Offenbachs Lebenswerk nochmals beschädigten – die Bücher- und Notenverbrennung der Nazi-Studentenschaft im Mai 1933 gehört dazu und der Einsturz des Kölner Stadtarchivs im März 2009 (dort befanden sich wichtige Teile des Nachlasses des in Köln geborenen Komponisten).

Stattdessen quirlen Doucet und sein nicht geschmackssicherer Ausstatter André Barbe Bildmotive von Kinderbüchern und ein Lager menschlicher Ersatzteile durcheinander, Herrn Kringel, viele goldene Totenköpfe, den Zauberer von Os und noch manch anderes Gerümpel. Hei, wie ist das lustig. Da bemerkt der Großteil der Zuschauer vielleicht nicht so schmerzhaft, wie sehr beim Terzett von Antonia, ihrer Mutter und Dr. Mirakel die Intonation reibt. Das Distonieren der als Giulietta aufgebotenen Operetten-Diva älteren Gestehungsjahres war dann noch etwas grenzwertiger. Mirko Roschkowski gibt die Titelpartie wie ein von Bücherfragen gänzlich unbeschwerter Alfredo, unternimmt nicht den leisesten Annäherungsversuch an literarische Intelligenz. Das rundet das ranzige Operettenglück ab, das auch – im Zuge einer „Kooperation“ – noch an die radikal niveauabgesenkte Oper Bonn verfrachtet wird.

Arme Armida!

Sie stammt aus der Tiefe des historischen und geographischen Raums. Bei Gelegenheit der ersten „bewaffneten Pilgerfahrt“ in den Vorderen Orient am Ende des 11. Jahrhunderts, soll sich in Damaskus – so die Fama – ihre wundersame, höchst erotische und traurig endende Geschichte zugetragen haben. Die als Lockvogel eingesetzte muslimische Prinzessin bekommt mit ihren „Zauberkünsten“ christliche Recken in ihre Gewalt, unter ihnen Renaud, den effektivsten Helden. Indem sie sich anschickt, auch ihn zu töten, tritt jäher Gesinnungswandel ein: Sie will nun lieber die Liebe des hübschen Kriegers als seinen Tod. Das Pendel der Gefühle schlägt wieder nach der anderen Seite aus, als der unzuverlässige Liebhaber von seinen Raufbrüdern zur christlichen Vernunft, zum Verlassen der schönen Geliebten und zur Rückkehr in die Truppe gebracht wird. Der von Torquato Tasso zu Papier gebrachte Plot entwickelte sich seit Monteverdis Tagen zu einem beliebten Theaterstoff – Christoph Willibald Glucks Drame-héroïque von 1777 hat seinen Platz im letzten Drittel der langen Reihe von Veroperungen, deren letzte von Gioacchino Rossini aus dem Jahr 1817 stammt.

Im Musiktheater präsentiert sich zuvorderst eine „phantastische“ Geschichte. In ihr hallt allerdings der kriegerisch-realistische Hintergrund vernehmlich nach. Ohnedies stammen sämtliche wichtigen Beiträge zur Werkgeschichte jeweils aus kriegerischen Zeiten. In denen kam es wohl allemal darauf an, die Aggression als gerecht oder gar gottgegeben erscheinen zu lassen und die Zunft der Militärs als einen ehrbaren Stand: 1575, als Torquato in „La Gierusalemme liberata“ die Textvorlage publizierte, tobte der 80jährige Krieg. 1686 entstand das Drama Philippe Quinaults (dessen Text Gluck folgte) – da bereitete das im Innern von einem neuerlichen Religionskrieg erschütterte Frankreich den Pfälzischen Raubkrieg vor, der mit Schlachten in den Kolonien und Seegefechten zu einem ersten weltweit ausgetragenen Krieg eskalierte. Als Gluck 1777 in Paris seine „Armide“ komponierte, mischte Frankreich kräftig mit im Nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg, um den Erzrivalen Großbritannien strategisch zu schwächen. Und schon der Erste Kreuzzug nach Palästina an der Wende zum 12. Jahrhundert verlief fürwahr nicht unblutig.

Das Kriegs-Motiv wird von Ivan Alexandres Inszenierung an der Wiener Staatsoper zunächst aufgegriffen: Verschiedene Nebenfiguren, die treppauf- und treppab eilen, tragen Patronengurte. Einige Herren des Balletts führen Wehrsportübungen vor. Für alle fünf Akte sah Pierre-André Weitz eine dreigeschossige Installation aus Metall vor, das zunächst leicht rostig anmutet: Beweglicher Industrie- und Fertigteil-Bau (die Teile wie aus einem Technik-Baukasten) deutet zugleich den Herrschaftsraum des Zauberer-Königs Hidraot an, „moderne“ Gefängniszellen und Folterkammern. Viel Maschendraht. Einen kurzen Augenblick lang stellen sich Assoziationen zu Bildern aus dem heutigen Damaskus ein. Hat man vergessen, diese optische Scheußlichkeit wegzubomben? Dem Bezug zur Gegenwart wirkt dann allerdings die weitere Bespielung der mobilen Gerüst- und Container-Architektur konsequent entgegen: Die Kreuzritter erscheinen mit Mänteln wie aus dem Siebenjährigen Krieg, Plastikschwertern und zeitlos stilisierten großen Schilden – die schöne neue Fantasy-Welt scheint (wie schon am Abend zuvor bei der Premiere von „Hoffmanns Erzählungen“ an der Volksoper) unaufhaltsam auf die Wiener Bühnen vorzudringen.

Geschlechtsumwandlung

Der in tieferen Regionen des französischen Geisteslebens und Kunstgewerbes sozialisierte Regisseur entwickelte die Auffassung, dass Armide keine „erotische Zauberin“ gewesen sein könne – dem hätte schon im Mittelalter die islamische Moral entgegengestanden; es müsse sich um einen verkleideten jungen Mann gehandelt haben. Also muss sich die bildschöne Gaëlle Arquez zeitweise eine nackte Plastikmännerbrust vor den Büstenhalter schnallen. Zugleich wollte Ivan Alexandre beiläufig auch noch eine interkulturelle Romeo & Julia-Geschichte erzählen – so, wie er dies auf inkonsistente Weise tut, deutet sich allerdings eine Romeo & Giulio-Story an. Ohnedies wird immer wieder mit homosexueller Symbolik hantiert – am drastischsten mit einem Knaben-Ballett, mit welchem dem beim Weibe verweichlichten Renaud wieder das Schwert und die Kampfmoral seiner Blütenträume-Jahre gereicht wird. Insgesamt erweist sich die Inszenierung als so zusammengestoppelt wie die Bühnengestaltung – keine plausible Durchführung exponierter Ideen, keine Linie, keine Handschrift.

Marc Minkowski hat die in tiefer Stimmung spielenden Musiciens du Louvre zahlenmäßig aufgestockt (zehn erste Violinen immerhin). Entschieden, akzentfreudig und insgesamt animierend kräftig ist sein Zugriff auf das heroische Drama, das den im 18. Jahrhundert lange vorwaltenden Schematismus von Rezitativ/Arie zugunsten situationsbedingter formaler Nuancierung und zugleich großflächiger Anlage der Szenen hinter sich lässt. Doch kann die erfolgreiche Verlebendigung der Musik das szenische Desaster insgesamt nicht wettmachen, wiewohl Stanislas de Barbeyrac (Renaud) sein Bestes gibt und als eher eleganter denn als herrischer Tenor umstandslos Wohlgefallen erzeugt. Mag auch der Stimme von Gaëlle Arquez die größere dramatische Kraft fehlen: Wenn die mit der Titelpartie betraute Sopranistin vorm Souffleurkasten steht oder gar zu den Orchesterleuten hinunter- und dem Publikum entgegengeht, dominiert sie das musikalische Geschehen mit warmem Timbre und blitzsauberer Intonation. Die historische Größe der Musik des alten Gluck ist an der Wiener Staatsoper in die Fänge inkompetenter Theatermacher geraten. Befreiung von solcher Geiselnahme ist nicht in Sicht.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!