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ORF Radio-Symphonieorchester Wien · Alsop | Orchester zu Gast 2022: Hornroh Modern Alphorn Quartet (Balthasar Streiff, Lukas Briggen, Jennifer Tauder-Ammann, Michael Büttler), ORF Radio-Symphonieorchester Wien, Marin Alsop (Dirigentin). © SF / Marco Borrel
ORF Radio-Symphonieorchester Wien · Alsop | Orchester zu Gast 2022: Hornroh Modern Alphorn Quartet (Balthasar Streiff, Lukas Briggen, Jennifer Tauder-Ammann, Michael Büttler), ORF Radio-Symphonieorchester Wien, Marin Alsop (Dirigentin). © SF / Marco Borrel
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Schöne Neue Musik bei den Salzburger Festspielen: 100 Jahre IGNM und das ORF-Orchester mit Haas und Ligeti

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Es gibt bei den Salzburger Festspielen Programme auch neben den standardisierten Elite-Laufstegen, bei denen man ins Träumen und Schwärmen geraten kann. Sogar gleichzeitig. Weil in solchen Programmen Toplader des Repertoires nicht mit Exklusivitätsbeteuerungen bestäubt und Interpretationsdetails nicht als Topseller-Revolution verkauft werden. Zwei solcher Glanzpunkte konnte man zum Jubiläum 100 Jahre IGNM im Mozarteum am 7. August und mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien in der Felsenreitschule am 9. August erleben.

Die IGNM (Internationale Gesellschaft für Neue Musik) wurde am 11. August 1922 im Salzburger Café Bazar gegründet. Auf den Tag genau 100 Jahre später feierten dort Mozarteum-Rektorin Elisabeth Gutjahr und das Selini Quartett Wien mit Werken von Anton Webern, Erwin Schulhoff und Julia Purgina deren 100. Geburtstag. Die im Rahmen des Aspekte Festivals eröffnete Ausstellung über die IGNM ist noch bis 23. September im Mozarteum zu sehen. „Wie gingen nach Bayreuth oder München und sättigten uns mit Wagner oder Mozart.“ schrieb Ernest Newman im Salzburger Volksblatt vom 11. August 1923 zum ersten Jahrestag der für die europäische Kunstmusik wesentliche Bedeutung erlangenden Vereinigung. „Der neue Geist ist viel abenteuerlicher. Er geht nach Salzburg, nicht um Musik zu hören, die er liebt und kennt, sondern um Musik zu hören, die er nicht kennt, in der Hoffnung, dass etwas davon wert sein möchte, geliebt zu werden.“ Wie bekannt haben die fast zeitgleich gegründeten Musiktage Donaueschingen diese Vision eher in die Gegenwart getragen, aber auch mit einem Skandal-Appeal bereichert, das man in Salzburg seit Herbert von Karajan für unpassend erachtet. Wer will, kann in Salzburg 2022 trotzdem ein dickes Kartenbündel nur für Werke aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart erwerben.

Neue Musik aus der Frühzeit der IGNM enthielt das von Mitgliedern der Wiener Philharmoniker ausgerichtete Kammerkonzert „100 Jahre IGNM“ im Großen Mozarteum-Saal am 7. August. Das Konzert des ORF-Radio-Symphonie-Orchester Wien, welches seit Jahrzehnten die Salzburger Festspiele mit Ungewöhnlichem ab der Wiener Moderne bereichert, brachte am 9. August mit dem Hornroh Modern Alphorn Quartet unter Marin Alsop in schöner Synthese das, was man eher als divergierende und reibungsscharfe Gegensätze wahrnimmt: Neue Tonsprache und ethnische Einflüsse bzw. Parameter.

Durch ihre attraktive, aber nicht ins Gefällige abgleitenden Stückauswahl erhielten beide Abende genau das, was Newman von Salzburg vor 99 Jahren forderte: Musikwerke, die wert sind, geliebt zu werden. Da geschah unter zwei Aspekten: Die Wiener Philharmoniker stellten Werke komponierender Bürgerschrecke von gestern vor, die zu den Klassikern von heute zählen. Sie taten es mit der ihnen eigenen Kernkompetenz für Schönklang und Transparenz. Ravels „Introduktion et Allegro“ für Harfe, Flöte, Klarinette und Streichquartett (1905) suggerierte unter Führung der Harfenistin Anneleen Lenaerts einen tönenden Sommertag in der Provence. Überhaupt ging auch das spröde Gedachte von Berg und Wellesz später mit dem Neurokoko-Saal eine fast sarkastisch schöne Synthese ein. Alban Bergs Adagio-Satz aus dem Kammerkonzert in einer Bearbeitung aus dem Jahr 1935 für Violine (Rainer Honeck), Klarinette (Matthias Schorn) und Klavier (Christopher Hinterhuber) patinierte das Gold am Stuck mit abdunkelnder Zartheit. Fast mehr noch als die Romantik-Reminiszenz, als die man Egon Wellesz‘ Oktett für Klarinette, Fagott, Horn, Streichquartett und Kontrabass op. 67 aufführte, überraschte vor der Pause Richard Strauss‘ „Till Eulenspiegels lustige Streiche“. Das berühmte Horn-Thema (Josef Reif) hat in Brett Deans Bearbeitung für Bläserquintett und Streichquintett aus dem Jahr 1991 weniger extrovertierte Soloqualitäten als im originalen Konzertorchester-Satz. Dafür strahlt die Einrichtung für zehn Solopositionen im Vergleich zum Original in einem noch abenteuerlicheren Gelichter und mit von den Harmonien angetriebener Verve. Jubel.

Folklore und ethnische Einflüsse assoziiert man bei György Ligeti und Georg Friedrich Haas, ausgehend von beider Vorliebe für bizarre Sujets, weniger. So hatte Leoš Janáčeks Sinfonietta op. 60 beim ORF Radio-Symphonieorchester Wiener durch die akustisch wie visuell äußerst eindrucksvoll in den Bogennischen der Felsenreitschule verteilte Blechbläsern weitaus mehr schroffes Kolorit als Haas‘ „concerto grosso Nr. 1 für vier Alphörner und großes Orchester“. Haas' 2014 in München uraufgeführtes Opus ist ein Ohrenbad aus Parallelstimmen und balsamischen bis pikant geschärften Oberton-Frequenzen. Wie das Kammerkonzert zwei Tage vorher gab es in diesem Beitrag der Reihe „Orchester zu Gast“ also Musik zum Verlieben. Gleiches muss man für Ligetis bereits 1951 entstandenes, aber erst 1971 in Wisconsin erstmals erklungenes „Concert Românesc für Orchester“ bestätigen. Ligeti reihte sämiges, schwärmerisches und erdiges Motiv-Treibgut zu vier effektvollen Sätzen. Die Zugabe der Schweizer Alphorn-Virtuosen bietet eine Überraschung. Der Titel „Lioba“ von Balthasar Streiff klingt zwar nach Schlager, ist aber keiner. So bleibt es dabei: Das Sprödeste am ORF-Konzertabend war das Aufstellen der langen Soloinstrumente auf dem Podium, was neben Balance- und Berührungsgeschick auch etwas Zeit erforderte. Marin Alsop am Pult strahlte und akzentuierte das liedhaft Strömende mehr als Klippen und Katarakte. Beide Abende waren festspielwürdig vom ersten bis zum letzten Takt genau in dem Sinn, wie man sich das bei Gründung der IGNM wünschte. Heiterkeit, Präzision und Sensibilität ergänzten sich auf hohem Niveau.

  • Übertragungen im Radio-Programm Ö1: ORF-Konzert am 18. August 2022 um 19.30, IGNM am 11. August 2022 um 19:30.

 

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