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Konzert beim Demenga-Festival. Foto: Max Nyffeler
Konzert beim Demenga-Festival. Foto: Max Nyffeler
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Steine, Wasser, Luft und der Klang der Musik – Das Demenga-Festival im südlich-alpinen Val Calanca

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Wie bringt man Leben in ein dünn besiedeltes Bergtal, das am Eingang mit einer Schlucht verriegelt ist und nach fünfzehn Kilometern im Niemandsland von Alpweiden und Geröllhalden endet? Natürlich mit Musik. Die Musikerfamilie Demenga praktiziert das alle drei Jahre mit einem Festival, das Werke von Barock bis Moderne in die Dörfer bringt und ein zahlreiches, bunt gemischtes Publikum aus nah und fern anlockt.

Das Val Calanca, so heißt das enge Tal zwischen zwei hohen Gebirgsketten auf der Südseite der Schweizer Alpen, ist ein Geheimtipp für Bergwanderer. Der Tourismus hält sich in Grenzen. In den acht Gemeinden, deren größte gerade einmal etwas über zweihundert Einwohner zählt, gibt es ein paar verstreute Gasthöfe, und immer wieder stößt man auf jahrhundertealte Kirchen und Baudenkmäler, viele davon schön renoviert. Doch die große Attraktion ist die wild-romantische Natur. Und weil es die gratis gibt, läuft hier wirtschaftlich nicht viel. Das größte Unternehmen im Tal ist ein Steinbruch, in dem der granitharte Gneis abgebaut wird; die meisten der rund sechzig Arbeiter sind Pendler aus dem nahen Italien. Ansonsten: Kleingewerbe, einige Stadtflüchtige und viele halb-bäuerliche Existenzen, eingespannt zwischen der verbleibenden Ziegen- und Schafwirtschaft zu Hause und dem Handwerks- oder Angestelltenjob drunten in der Ebene. Die Infrastruktur ist auf staatliche Subventionen angewiesen – Grund für wirtschaftspolitisch einflussreiche Think Tanks, dem Tal das hässliche Etikett „unrentabel“ anzuhängen. Sie möchten es wohl gerne durch ein alpines, gegen Eintrittsgeld zu besichtigendes Disneyland ersetzen.

Damit hätten sie allerdings die Rechnung ohne den Wirt gemacht: ohne die Bevölkerung, die trotz Abwanderungstendenzen und Überalterung zäh an der Bewirtschaftung des Tals festhält, und auch ohne die Geschwister Demenga, die sich im Calancatal noch immer eine bisschen heimisch fühlen – einer ihrer Vorfahren ist einst von hier nach Bern ausgewandert. Ihr Kammermusikfestival bildet den Höhepunkt der vielen kleinen lokalen Kulturaktivitäten und öffnet das Tal eine Woche lang dem internationalen Musikleben. Finanziert wird es durch öffentliche Subventionen, eine stattliche Zahl von Sponsoren, Aufnahmen von Radio Svizzera Italiana und Eintrittsgelder. Die vielen freiwilligen Helfer arbeiten umsonst. Rund die Hälfte des Publikums besteht aus Einheimischen, zu denen sich auch manche Feriengäste gesellen. Ein Kinderkonzert bringt außerdem ganze Familien auf die Beine. Dank einer guten Öffentlichkeitsarbeit kommen die Besucher zum Teil von weit her, aus der deutschen Schweiz, aus dem fünfzig Kilometer entfernten Lugano und einige sogar aus der Nähe von Mailand. Auch die hohe Politik ließ sich blicken in Gestalt einer Bundesrätin und eines Nationalrats (Mitglied des Parlaments), wobei letzterer sich nach dem Konzert gemeinsam mit den Talbewohnern und Musikern noch bis weit nach Mitternacht an den Wirtshaustisch setzte. Die offizielle Schweiz demonstriert, dass sie das kleine Calanca-Tal nicht links liegen lässt. Trotz angeblicher Unrentabilität.

Den temporären Auftrieb an auswärtigen und Prominenzen nehmen die Talbewohner gelassen. Sie verweisen darauf, dass sie schon immer weltoffen waren und dass ihre Vorfahren bis nach Holland und Russland auswanderten. Und oft wieder zurückkehrten. Aus der unmittelbaren Umgebung stammt zum Beispiel der Baumeister Giovanni Viscardi, der in München zu Beginn des 18. Jahrhunderts maßgeblich am Bau der Theatinerkirche beteiligt war, die Pläne für die Dreifaltigkeitskirche schuf und auch in Augsburg, Freystadt, Benediktbeuren und Fürstenfeld Kirchenbauten erstellte.

Beteiligt an den Kammermusikkonzerten des Demenga-Festivals waren diesmal nicht weniger als vier Geschwister: Annina, die Pianistin und zugleich Organisatorin des Festivals, die beiden international bekannten Cellisten-Brüder Patrick und Thomas sowie der Theatermann Frank, der das Musikprogramm mit einem Dreipersonenstück zum Thema Künstliche Intelligenz ergänzte – Science Fiction als harter Kontrast zur Bergwelt. Zu den vielen prominenten Gastmusikern zählten Heinz Holliger – in Oboenquartetten von Mozart und Britten sowie einem ausdrucksstarken Quintett von Boccherini –, erfahrene Ensemblespieler wie die Geigerinnen Muriel Cantoreggi und Daria Zappa, der Flötist Matthias Ziegler und die Bratschisten Christoph Schiller und Hariolf Schlichtig.

Die Konzertorte waren über das ganze Tal verstreut: Dorfkirchen, eine Turnhalle, ein Mehrzweckraum. Und die Werkhalle des Steinbruchs von Arvigo. Wo sonst riesige Stahlsägen die Gneisblöcke zerteilen, improvisierten nun die Cello-Brüder Demenga gemeinsam mit dem Schlagzeuger Fritz Hauser, mit Matthias Ziegler und dem Steinbildhauer Arthur Schneiter, dessen Klangplastiken sanft zum Klingen gebracht wurden. Von Misstrauen gegen musikalische Experimente beim Publikum keine Spur; es spendete den Musikern dieses Konzerts, das unter dem Motto „Steine“ stand, begeisterten Applaus.

Auch an anderen Abenden übertraf der Publikumszuspruch alle Erwartungen. Fast vierhundert kamen zum festlichen Eröffnungskonzert mit Haydn, Brahms und Schubert in der 1219 erstmals dokumentierten Wallfahrtskirche von Santa Maria. Hier hieß das Konzertmotto „Wasser“, passend zu Schuberts Forellenquintett. Um „Luft“ ging es schließlich in der Kirche des Dörfchens Augio, wo der Akkordeonist Luka Juhart mit einem Solostück von Hosokawa und einer packenden Version von Vinko Globokars „Dialog über Luft“ aufwartete. Die Zuhörer auf den Kirchenbänken reckten gewaltig die Hälse, der Applaus war heftig. In einem Tal, wo das Leben seit Urzeiten von den rauen Elementen der Natur geprägt wird, gerät manchmal auch das Musikhören zum elementaren Erlebnis.

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