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Über die Undurchhörbarkeit der Katastrophe

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Uraufführung der Oper „Benjamin, dernière nuit“ von Régis Debray und Michael Tabachnik in Lyon. Heimatlosigkeit hat viele Erscheinungsweisen, Disziplinlosigkeit kann eine davon sein. In der Oper „Benjamin, dernière nuit“ fragen die Mandarine der Frankfurter Schule, angespornt von Max Horkheimer, den getriebenen Walter Benjamin mit inquisitorischem Gestus, in welcher Disziplin er eigentlich arbeite: Historiker? Kunsthistoriker? Zionist? Architekt? Marxist? Theologe? Von allem ein bisschen, antwortet, eher ratlos als großspurig, Walter Benjamin in Regis Debrays Libretto.

Eine Oper (mit und) zu Walter Benjamin kann darum auch nicht die Form einer konventionellen Oper haben. „Benjamin, dernière nuit“ ist ein vielschichtiges Gesamtkunstwerk. Michel Tabachnik hat Debrays Libretto, das ursprünglich als Theaterstück konzipiert war, stilistisch polymorph und sehr präzise vertont, so dass, wie er selbst sagt, „die Musik am Text klebt“. Zu diesem Konzept gehört auch, dass ein Teil des Textes nicht vertont ist, sondern gesprochen wird.

John Fulljames’ Inszenierung arbeitet mit klaren, großen Gesten, mehreren gut sortierten Handlungs- und Kommentierungs-Ebenen und komplexer Ereignisdichte in einem wirkungsvollen, breit und vielschichtig gebauten Bühnenbild (Michael Levine). Bernhard Kontarsky hat gewissenhaft die durchaus heikle musikalische Gestaltung realisiert, dabei die individuellen Qualitäten jeder einzelnen Szene präzise berücksichtigt und die dramatischen Qualitäten der Musik feinsinnig ausformuliert. So war, trotz einer durchaus auch sperrigen und nie vordergründig kulinarischen Gesamtwirkung, die Uraufführung in der Opéra de Lyon – als Auftakt eines Festival pour l’humanité – ein nachdrücklicher Publikumserfolg.

An Walter Benjamins Bekanntheit in Frankreich kann das kaum liegen. Benjamin war einer von zahllosen Deutschen, die vor der Hitlerei flohen, denen Frankreich häufig mit Ignoranz oder Misstrauen begegnete und zum Teil auch unter unangenehmen Begleitumständen internierte. Benjamin ließ sich von Lisa Fittko über eine grüne Grenze durch die Pyrenäen geleiten, um von der katalanischen Stadt Port Bou aus via Lissabon in die USA zu gelangen. Als er den Eindruck hatte, die spanischen Behörden würden ihn wieder nach Frankreich zurückschicken, beging er Selbstmord.

Das Stück über seine letzte Nacht ist ein spekulativ arrangiertes szenisches Konzentrat letzter Minuten, in denen ja angeblich das ganze Leben noch einmal als retrospektiver Kurzfilm läuft. Benjamin taucht darin doppelt auf, als Schauspieler mit Sprechtext und als Tenor in seinem eigenen Lebens-Albtraum, der ihn in einem Stationen-Drama noch einmal mit wichtigen Begegnungen konfrontiert: mit Asja Lacis und Hannah Arendt, mit Arthur Koestler, Bert Brecht und Gershom Sholem, mit Max Horkheimer und André Gide. Es ist eine Art Nummern-Revue des Nicht-Angenommen-Werdens, der unauflöslichen Heimatlosigkeit, des Weitermüssens und der Ratschlägerei. In der Benjamin-Doppelrolle sieht und hört man Sava Lolov (Schauspieler) und Jean-Noël Briend (Sänger), die als eingespielt-doppelgesichtiges Team die Gegenwart und den Rückblick kompakt und differenziert miteinander verzahnen.

„Benjamin, dernière nuit“ spielt in der wohl düstersten Phase des 20. Jahrhunderts, als Hitler Europa siegreich zu unterwerfen schien und mit Stalin im Bunde war. Die hohe Beachtung, die dieser Lyoner Uraufführung zuteilwurde, hat wohl vornehmlich mit Régis Debray zu tun, der als Schriftsteller, öffentlicher Intellektueller und ehemaliger Kampfgefährte Che Guevaras erhebliche Prominenz genießt. Seine Auseinandersetzung mit Benjamin will, wie er sagte, eine historische Schuld abtragen helfen, die die französische Intelligenz an – unter anderem – Walter Benjamin auf sich geladen habe; es ist die Figur des André Gide, die im Libretto diese Gewissenslast auf sich nehmen muss. Allerdings ist die Ignoranz eines Max Horkheimer kein Gran geringer. Möglicherweise spiegelt Debray aber auch, ohne jegliche Koketterie, seine eigene chronische Heimatlosigkeit in dieser Figur.

Michel Tabachniks Musik evoziert, behutsam dosiert, einen weiträumig gedachten Rückblick auf die Musik der Moderne: Schönbergscher Sprechgesang, klangliche Vehemenz und rhythmische Vielschichtigkeiten wie bei Xenakis, synchron bis zur katastrophischen Undurchhörbarkeit geschichtete Polystilistik sind einige der Ausdrucksweisen, die ihm zur Verfügung stehen – und dennoch ist die Musik nicht versiert, sondern mit wohlüberlegter Konsequenz und durchdachten Ausdrucksabsichten konzipiert.

Die visuelle Gestalt der Uraufführung mit filmischen und historischen und verfremdenden Reminiszenzen spart nicht an Prägnanz und Bildreichtum. Dennoch bleibt in all dem genügend Raum, um die fortschreitende Verzweiflung des ewigen Flüchtlings gewissermaßen als Breitwand-Geschehen spürbar zu machen. Tabachniks Musik und Kontarskys Dirigat produzieren dazu eine Art filmischer Begleitmusik mit intensiver Wirksamkeit.

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