Hauptbild
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Vor Leben strotzende Spätwerke: Roberto Gerhards Kammermusiken auf CD

Publikationsdatum
Body

Nach zwei groß angelegten Initiativen in den neunziger Jahren, das Werk Roberto Gerhards (1896–1970) umfassend diskographisch zu erschließen – die eine beim längst eingestellten Label Disques Montaigne, die andere bei Chandos – war es in den letzten Jahren auffallend still um den einzigen spanischen Schönberg-Schüler. Jetzt sind gleich zwei hochrangige Einspielungen mit später Kammermusik erschienen.

Das offizielle 1. Streichquartett – einige Frühwerke sind heute verschollen – entstand ab 1950 über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg, den äußeren Schein der traditionellen Viersätzigkeit bis in die Temporelationen wahrend. Wie bei Strawinsky drängt sich unwillkürlich der Eindruck auf, dass der Kopf der Zweiten Wiener Schule erst das Zeitliche segnen musste, bevor Gerhard damit beginnen konnte, sich systematisch mit der Zwölfton- bzw. Reihenkomposition auseinanderzusetzen. Die Folklorismen, welche sein Œuvre bislang weithin, teils schon in den Überschriften geprägt hatten, sind schlagartig verschwunden; das vom vormaligen Granados- und Pedrell-Zögling geradezu erwartete spanische (oder, korrekter: katalanische) Kolorit verblasst zugunsten einer schrittweisen Annäherung an die aktuellen Entwicklungen der Nachkriegszeit (bis hin zur elektronischen Musik übrigens), und siehe da, so paradox dies von heute aus klingen mag: Der lange ausgebliebene Erfolg, auch in Form von Kompositionsaufträgen, beginnt sich einzustellen. Je strenger und abstrakter Gerhards Musik sich darbietet, desto ernster wird sie genommen in jenen dogmatischen Jahren der Darmstädter und Donaueschinger Orthodoxie.

Doch was sagt sie uns heute? Während besagter „Erstling“ sich selbst in der Luxusinterpretation des Arditti-Quartetts ziemlich deprimierend, weil eher gut gemeint als wirklich überzeugend anhört, reiht sich das zweite von 1960–62 auf den ersten Eindruck unter so wegweisende Gattungsbeiträge der sechziger Jahre ein wie den Solitär von Lutosławski oder das zweite Ligeti-Quartett. Die Fülle der hier geforderten neuartigen oder zumindest außergewöhnlichen Spieltechniken sollte erst zehn Jahre später von Lachenmanns „Gran Torso“ übertroffen werden. Wie dem auch sei – die Musik hält zwar selbst den verwöhnten Hörer mühelos auf der Stuhlkante, sodass die knappe Viertelstunde im Nu vorüberrauscht, aber die einzelnen, für sich genommenen faszinierenden Stellen runden sich (noch) nicht zu einer schlüssigen Form.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die zwischen den beiden Hauptstücken der CD komponierte, zwanzigminütige „Chaconne“ von 1959 beansprucht (allerdings ohne ihn eingeräumt zu bekommen) einen Platz als Gipfelwerk der neueren Soloviolinliteratur, indem sie die Bachische Herausforderung in der Form eines Variationszyklus’ über eine Zwölftonreihe annimmt. Dass Gerhards „Chaconne“ so selten gespielt wird, liegt einerseits an ihrer nicht wegzudiskutierenden Sprödigkeit, andererseits an den horrenden spieltechnischen Ansprüchen (die Irvine Arditti hier übrigens glänzend meistert), welche in keinem vernünftigen Verhältnis zum bescheidenen äußeren Effekt stehen, den sie im Konzert machen würden.

Insgesamt also ist die für Kenner durchaus aufschlussreiche Arditti-Scheibe kaum der geeignete Ort, eine Auseinandersetzung mit Roberto Gerhard zu beginnen – ganz im Gegensatz zur Neos-CD: Die vier darauf enthaltenen Kammer-Kompositionen aus den sechziger Jahren, der Dekade also, die Gerhards Schaffen krönte, reichen in der Besetzung vom Duo Violine-Klavier („Gemini“) über ein Sextett („Libra“) und ein Oktett („Concerto for 8“) bis hin zum Dezett („Leo“) und schließen zeitlich exakt an die vorige CD an: Das „Concerto“ entstand 1962, wobei beide CDs irritierenderweise mit dem jeweils zuletzt entstandenen Stück beginnen; die Produzenten wollten wohl die wirkungsvollsten Stücke an den Anfang stellen.

Da von keinem Hörer ernstlich erwartet werden kann, die Wandlungen einer oder mehrerer Reihen (es geht da ja nicht bloß um Tonhöhen, sondern etwa auch um Tondauern) innerhalb eines Stücks nachzuvollziehen, liegt ja der eigentliche Reiz von Gerhards Musik seiner eigenen Auffassung nach im Bereich des Klanglichen, also der interessanten, einander nach exakten Formvorgaben ablösenden Schallereignisse.

Solche „Sensationen“ zu liefern, ist ein Ensemble mit zunehmender Größe tendentiell eher in der Lage – sollte man meinen. Umso größer die Überraschung, dass das von Rahel Cunz und Christoph Keller mitreißend dargebotene Duo Concertante namens „Gemini“ hier besonders heraussticht – wohl weil der Geist des Miteinander sich bei einem Duo stärker vermittelt als bei einem Ensemble, dessen Mitglieder, wie wir das von der Klangfarbenmelodie her kennen, sich gelegentlich bloß für einen Akkord in immer neuen Kombinationen zusammenfinden. Bei Gerhard jedoch kommt, anders als bei so manchen seriell arbeitenden Komponisten, deren Elaborate bisweilen wie tönende Mathematik anmuten, immer sorgsam ausgehörte, ja geradezu wohlklingende Musik heraus. Die am Ende seines Lebens stehenden Tierkreis-Stücke „Libra“ und „Leo“ (deren Flötenparts zuweilen an die japanische Bambusflöte Shakuhachi erinnern) haben überhaupt nichts Wehmütiges oder gar Schwächelndes an sich, sondern strotzen geradezu vor Leben und spannenden Ideen und verzaubern zwischendurch mit einer bei Gerhard bislang so noch nicht vernommenen Poesie.

Der Einsteckfalz im Digipack ist leider von vorneherein viel zu schmal, um dem schweren Booklet standzuhalten, das dennoch mehr Gemeinplätze als wirkliche Informationen enthält – letzteres übrigens ein Schwachpunkt zahlreicher Neos-Veröffentlichungen. Aber die Interpretationen des Collegium Novum Zürich wirken ähnlich bestechend wie auf seiner Widmann-CD vor einigen Jahren.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!