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Ilya Repin: Portrait des Komponisten Alexander Konstantinovich Glazunov. Öl auf Leinwand. 119 × 90.5 cm. The State Russian Museum, St. Petersburg.
Ilya Repin: Portrait des Komponisten Alexander Konstantinovich Glazunov. Öl auf Leinwand. 119 × 90.5 cm. The State Russian Museum, St. Petersburg.
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Zu früh geborener Tonfilmkomponist – Zum 150. Geburtstag ein neuer Blick auf das Werk von Alexander Glasunow

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Immer dann, wenn runde Geburts- oder Gedenktage (mehr oder weniger) großer Komponisten herannahen, ist mit zyklischen Aufführungen, Gesamteinspielungen oder wenigstens festlichen Einstudierungen von Schlüsselwerken zu rechnen; derlei Daten erleichtern das Programmieren von Konzertreihen und die Koordination längerfristig angelegter CD-Projekte ungemein. Exemplarisch war dies zuletzt anhand des 150. Geburtstags von Carl Nielsen zu beobachten, und Sibelius wird es Ende des Jahres zum selben Anlass kaum anders ergehen. Wie aber steht es um Alexander Glasunow (1865-1936)?

Dessen Schaffen ist erstaunlicherweise keiner einzigen Neueinspielung (oder auch nur Wiederveröffentlichung) für würdig befunden worden. Glasunows katastrophale, weil schlecht einstudierte und angeblich volltrunken geleitete Uraufführung der ersten Symphonie von Rachmaninoff (der in eine tiefe Depression fiel) wird sein eigenes Werk doch nicht etwa mit einem nachträglichen Fluch belegt haben?

Hoffnungsvoller Beginn

Dabei hatte alles einst so hoffnungsvoll begonnen, als der durch Rimsky-Korsakoff ausgebildete Sechzehnjährige unter großem Beifall seine 1. Symphonie in St. Petersburg vorstellte. Das frisch gebackene Wunderkind Glasunow wurde daraufhin unmittelbar in den Kreis des mäzenatisch tätigen Holzmagnaten und späteren Musikverlegers Beljajeff aufgenommen. Es folgten ein reiches gesellschaftliches Leben, Konzertreisen ins Ausland und zahlreiche Werke nahezu aller Gattungen. Erst Glasunows intensives Engagement für die Ausbildung des Nachwuchses – er leitete das St. Petersburger Konservatorium ab 1905 und steuerte es bis 1928 sicher durch alle Revolutionswirren – und die Folgen des Alkoholkonsums brachten seinen Schaffensdrang zum Erliegen: In den zehn Jahren von Kriegsende bis 1928, als er sich unter einem Vorwand in Paris niederließ und eine späte Ehe einging, schrieb er außer einem ebenso ausladenden wie uninspirierten Streichquartett (Nr. 6) und ein paar Klavierstückchen gar nichts mehr. In den letzten Lebensjahren entstanden vor allem ein letztes, nostalgisch angehauchtes Streichquartett sowie kurioserweise zwei Kompositionen für Saxofon.

Wer seinen Werkkatalog studiert, wird bemerken, dass Glasunow zwar wie alle Russen etliches für Klavier komponierte, darunter auch zwei Sonaten, aber keiner kennt und spielt diese Musik. Nicht einmal die beiden Klavierkonzerte, von denen Karl-Andreas Kolly eine schöne Einspielung vorgelegt hat (Pan Classics), gingen ins Repertoire ein – ganz im Gegensatz zum hochidiomatischen Violinkonzert, für das sich im Gefolge Heifetz‘ immer wieder Geiger stark machen. Letzteres Werk gehört nicht einmal zu seinen originellsten Partituren, doch es verrät immerhin, wie tief Glasunow im 19. Jahrhundert verwurzelt war und blieb, denn seinen einmal gefundenen Personalstil hat er nicht mehr verändert. Doch selbst Verächter Glasunows, die ihn einst für seinen Konservatismus geißelten, haben kaum verhehlen können, dass seine Orchestermusik im handwerklichen Sinne sorgfältig gearbeitet und brillant instrumentiert ist.

Die Kälte

Die Ursache für seinen anhaltend zweifelhaften Ruf liegt anderswo: Solche Glasunow-Stücke, welche die Grenze vom Gefühlvollen zum Gefühligen überschreiten, laufen letztlich ebenso Gefahr, den Hörer emotional kalt zu lassen, wie jene, die dem westlichen Formenkanon allzu akkurat Genüge tun wollen. Insbesondere bei zwei Gattungen, die Glasunow relativ großzügig bedacht hat, wirkt seine Inspiration über weite Strecken wie gelähmt vom übertriebenen Respekt vor der westlichen Tradition: Zum einen hat er sieben große, offiziell gezählte Streichquartette geschrieben, die bis auf das frische op. 1 zum Staubtrockenen oder zumindest Altbackenen tendieren, vor allem, sofern sie nicht anständig gespielt werden. Deshalb sei an dieser Stelle ausdrücklich der in jeder Hinsicht modellhafte Zyklus des hoch engagierten Utrecht String Quartet (MDG) empfohlen, der die ebenfalls aus der Frühzeit stammenden Noveletten (unterhaltsame Beiträge zu Beljajeff-Abenden) und die köstliche Suite miteinbezieht.

Akademismus

Zum anderen hat Glasunow nach seinem Einstand 1882 (zweifelsohne eine beachtliche Talentprobe, doch mit Prokofieffs und Schostakowitschs genialen Erstlingen nicht zu vergleichen) sieben weitere Symphonien vollendet, die etwa alle zehn Jahre einmal aufgenommen werden (mir lag der mit einem russischen Orchester sorgfältig einstudierte und gut klingende Zyklus von Valery Polyansky bei Chandos vor). Leider versanden deren reizvolle Ansätze alsbald, weil Glasunow jeden Sinn für den dramatisch geschürzten Konflikt vermissen lässt – sicher kein Zufall, dass er die Abstraktion des Balletts („Die Jahreszeiten“) schätzte, die Oper jedoch auffallend mied. Die acht Symphonien scheitern an ihrem eigenen Anspruch, weil sie uns das genuin Symphonische letztlich schuldig bleiben: Statt dessen müssen wir sorgfältig ausgemalte Stilübungen in leer laufendem Akademismus über uns ergehen lassen; der Duktus ist unverkennbar russisch, die Musik muss aber leider ohne Tschaikowskys tragisches Pathos und dessen großartige, ins Ohr gehende Einfälle auskommen. Die hob sich Glasunow nämlich für unzählige, nicht an eine feste Form gebundene Orchesterstücke aller Art auf: Ouvertüren, symphonische Dichtungen, Programm-Musiken, Suiten und Ballette, die bislang nur im Rahmen einer verdienstvollen Serie bei Marco Polo bzw. Naxos in ihrer ganzen Fülle präsentiert wurden (sie bleibt zumindest online vollständig greifbar).

Romantisches Idyll & märchenhaft orientalisches Bacchanal

Besonders zwei Typen von Genrestücken haben es Glasunow dabei angetan: das romantische Idyll, in dem die Zeit zum Stillstand kommt oder ganz aufgehoben scheint, einerseits; und das märchenhaft orientalische Bacchanal andererseits. Etwas später zur Welt gekommen, hätte er mit dieser Begabung eine glänzende Karriere in Hollywood machen können, und zwar als Spezialist für Szenen, welche die Protagonisten von den Bedrängnissen dieser schnöden Welt in ein ortloses Traumland entführen sollen. Auch Monumentalfilme, wie sie ein Miklós Rózsa kongenial vertonte, wären in Glasunows Händen bestens aufgehoben gewesen. So gesehen, war er nicht etwa ein arg verspäteter Romantiker, bei dem man den doppelten Boden des fünf Jahre älteren Mahler vergebens sucht, sondern vielmehr ein verhinderter, weil zu früh geborener Tonfilmkomponist.

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