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Aenigma et Stupor

Untertitel
„Rätselhaftes und Erstarrtes“ im Konzert mit Iris Lichtinger und Stefan Blum
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Über fast 1.000 Jahre Entstehungsgeschichte spannte sich der Bogen des Konzertprogramms, das Iris Lichtinger (Blockflöten, Gesang) und Stefan Blum (Percussion) auf Einladung des Augsburger Tonkünstlerverbandes in der „Utopia Toolbox“ vorstellten. Beide Künstler sind international gefragt, Dozenten am Leopold-Mozart-Zentrum der Universität Augsburg und vielseitig: So ist Iris Lichtinger sowohl in Alter als auch in Neuer Musik sowie als Tango-Pianistin professionell unterwegs, der Münchner Stefan Blum als Percussionist, Komponist und Schlagwerkpädagoge in Sachen zeitgenössischer Musik wohlbekannt.

Spiritualität durchzog – im Kontext des Lutherjahres – als roter Faden das Programm „Aenigma et Stupor“. Die Werke von Komponisten deutsch-indischer, israelisch-palästinensischer, mexikanischer, amerikanischer und deutscher Herkunft spiegeln unterschiedliche Glaubensansätze wider, die letztlich in spirituelle Einheit münden. Gleich zu Beginn entführte Hildegard von Bingens „O quam mirabilis“ mit an Gregorianik anmutenden Renaissanceflöten-Klängen über monotonen Gongschlägen in eine ferne Welt. In „Nirgun Bhajan“ des indisch-stämmigen Komponisten und Musikforschers Sandeep Bhagwati deklamierte Lichtinger einen Text aus der Tradition nordindischer spiritueller Lieder über einem elektronisch zugespielten Bordun und sieben bunt gemischten Schlaginstrumenten. Die daraus entstehenden sieben Tonstufen bestimmten die improvisierte Melodik beider Musiker und schwirrten als kreiselnde und sich umeinander windende Skalen durch den Saal.

Erschütternd „Li – Sabbrá“ des palästinensisch-israelischen Komponisten Samir Odeh-Tamimi, in dem das Massaker in den Flüchtlingslagern von Sabbrá und Schattila in Südbeirut 1982 in Erinnerung gerufen wird.

Lichtinger und Blum artikulierten hier in erschreckend realistischer, gnadenloser Tongebung die Kriegsgeräusche, das angstvolle Aufschreien der Kinder, die Tötungsmaschinerie. Betroffene Stille danach im Raum. Sie löste sich in mittelalterlichem Flair: Blums Darbuka und Lichtingers virtuose Sopranflöte in den anonym entstandenen Estampien „Istanpitta In pro“, „Lamento di Tristano“ und „Ghaetta“, die einem toskanisch/umbrischen Manuskript entnommen sind. Meditativ dagegen stimmte das Werk „Ofrenda“ des Mexikaners Mario Lavista, ein Requiem, das Iris Lichtinger mal mit Flöte solo, mal faszinierenderweise zweistimmig mit Flöte und eigener Stimme intonierte und die Zuhörer in einen mystischen Bann zog. In seiner mitreißenden Stringenz sicherlich eines der Highlights des Abends: Stefan Blums „Moving Skin Pattern“, eine sich immer mehr verdichtende und dynamisch anwachsende Modifikation mehrerer Pattern, die der Komponist auf neun Naturfelltrommeln präsentierte. Blumentöpfe als Sinnbild für die Zerbrechlichkeit von Erde und Menschen dienten im abschließenden Werk „To the earth“ des Amerikaners Frederic Rzewski als sonore Schlaginstrumente – von Blum rhythmisch koordiniert mit Lichtingers Sprechstimme, die in daktylischen Hexametern ein aus dem 7. Jahrhundert stammendes Gebet an Gäa, die Göttin der Erde, in den Raum rezitierte.

Der aufbrandende Applaus kam von einem Publikum, das begeistert, aber auch ergriffen, berührt und fasziniert war.

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