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Generationenübergreifendes Singen im Workshop. Foto: Michael Fuchs
Generationenübergreifendes Singen im Workshop. Foto: Michael Fuchs
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Auf dem Weg zu einer Stimmkultur ohne Dogma

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Das 7. Leipziger Symposium zur Kinder- und Jugendstimme bezog die Wechselwirkungen mit der Erwachsenenstimme ein
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Vom 20.–22. Februar 2009 trafen sich interessierte Phoniater, HNO-Ärzte, Logopäden sowie Sprechwissenschaftler, (Gesangs-)Pädagogen, Stimmbildner, Chorleiter und sämtliche der Kinder- und Jugendstimme verpflichtete Personen zum 7. Leipziger Symposium. Rund 500 Teilnehmer konnten dank vorbildlicher Organisation die vielfältigen Angebote der Veranstaltung zu ihrer größten Zufriedenheit genießen und nutzen. Die Stimmung während der drei Tage war gut, was sowohl an den idealen Rahmenbedingungen im Gesamten, als auch an der hervorragenden Organisation und Moderation des kompetenten, sympathischen, eloquenten und immer diplomatischen Oberarztes des Universitätsklinikums Leipzig, Dr. Michael Fuchs, lag.

Die Teilnehmerzahl des Symposiums steigt stetig. Man kann fast von einer interdisziplinären Großfamilie der Stimmbegeisterten sprechen, die sich Jahr für Jahr in Leipzig treffen. Dass eine Veranstaltung dieser Größe noch als familiär empfunden wird, mag an den wiederkehrenden Teilnehmenden liegen, die dieser sehr speziellen und großartigen Form der Fortbildung die Treue halten. Leipzig avanciert damit zum interdisziplinären Mekka der Stimmverantwortlichen unterschiedlichster Genres. In seiner Begrüßungsrede nahm der Direktor der Klinik und Poliklinik für HNO-Heilkunde des Universitätsklinikums Leipzig, Prof. Dr. Andreas Dietz, zunächst Bezug auf die sich verändernden semantischen Bezüge. Gerade zwischen den Generationen gibt es mannigfaltige Sprachschwierigkeiten und Verständigungsprobleme, teils verantwortet durch einen unterschiedlichen geistigen Hintergrund, der dieselbe Information different einordnet – vor allem dann, wenn die Botschaft nur durch Sprache, also auf dem logischen Sektor vermittelt wird. So finden wir, die heutige Erwachsenengeneration, eine Veranstaltung wie dieses Symposium einfach „sensationell“ und ein heute 15-Jähriger findet sensationelle Dinge „porno“! Das Leipziger Symposium beschäftigte sich allerdings weniger mit der sich verändernden Jugendsemantik als vielmehr mit den Wechselwirkungen zwischen der Erwachsenen- und der Kinderstimme.

In der täglichen Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kindern nimmt die Stimme als Grundlage der Sprache und als eigenständiger Träger von Informationen eine zentrale Position ein. Erwachsene sind stimmliche Vorbilder für Kinder und Jugendliche – im positiven Sinne. Das betrifft in vielfältiger Weise die vokale und verbale Kommunikation, sowohl zwischen Gesangspädagogen und Schülern als auch zwischen Ärzten beziehungsweise Therapeuten und ihren Patienten aller Alterstufen. Um diese Wechselwirkungen zwischen Erwachsenen- und Kinderstimmen zu verstehen, gilt es zunächst, deren Gemeinsamkeiten, aber auch deren altersspezifische Besonderheiten und die jeweiligen Bedingungen der Kommunikation zu berücksichtigen. Auf diese Weise können sowohl die physiologische Entwicklung der „Stimme im Wachstum“ als auch die Gesundheit der Pädagogen- und Therapeutenstimme sowie eine fruchtbare Beziehung zwischen beiden gefördert werden. Das Symposium beschäftigte sich in diesem Zusammenhang unter anderem mit folgenden Leitfragen:

  • Welche Rollen spielen Erwachsenenstimmen als Leitbilder?
  • Unter welchen Bedingungen entwickeln sich Kinderstimmen zu Erwachsenenstimmen? Welchen Einflüssen ist dieser Entwicklungsprozess ausgesetzt?
  • Welche positiven oder negativen  Wechselwirkungen zwischen Erwachsenen- und Kinderstimmen können definiert werden?
  • Welche Schlüsse sind medizinisch und gesangspädagogisch (z.B. Lernstrategien, Erwartungshaltung) zu ziehen?
  • Welche prophylaktischen Maßnahmen können ergriffen werden?
  • Wie sollen Kinder auf ihrem Weg zu stimmlich-musikalischer Kompetenz begleitet werden?

In seinem Einführungsvortrag mit dem Titel: „Das Kind ist kein verkleinerter Erwachsener“ beschrieb Dr. Michael Fuchs Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Beziehungen zwischen kindlichen, jugendlichen und erwachsenen Stimmen. Dank moderner Technik konnte der Alterungsprozess einer Person bezüglich ihres Aussehens und ihres Stimmklanges demonstriert werden. Sehr eindrucksvoll zeigte sich dabei, dass die Entwicklung der Stimme nicht linear, sondern phasenhaft verläuft. Besonders große Veränderungen in kurzer Zeit ereignen sich während der Mutation (Stimmwechsel), die sich bei beiden Geschlechtern mehr oder weniger deutlich erkennbar vollzieht. Bei einer Mädchenstimme verfünffacht, bei der Knabenstimme verzehnfacht sich die Länge der Stimmlippen im Laufe der Pubertät. Die Stimmlippen werden mit zunehmendem Alter dünner und weisen einen differenzierten histologischen Aufbau auf. An dieser Stelle hätte man sich konkrete gesangspädagogische Konsequenzen gewünscht. Damit wäre die interdisziplinäre Wirkung dieser Veranstaltung optimiert. So hätte man konkret und unmittelbar für die Praxis und das eigene musikpädagogische Handeln Folgerungen treffen können.

In welch hohem Maße das Vormachen und das richtige Nachahmen im Singen und Sprechen Auswirkungen auf die sich entwickelnde Stimme hat und wie hier die Weichen für den Umgang mit der Stimme für das gesamte Leben gestellt werden, ist zwar vielfältig dokumentiert, aber leider noch nicht empirisch untersucht. Die Experten wissen, dass falsche Gewohnheiten nur mit viel Mühe und ausdauernder Konsequenz zu korrigieren sind. Um dem vorzubeugen ist es wichtig, allen, denen junge Stimmen anvertraut sind, Handreichungen, Kenntnisse und Wege zu vermitteln, die von Anfang an helfen, Probleme zu vermeiden.

Man weiß, dass die Erwachsenenstimme einen großen Einfluss auf die Kinderstimme hat. Dies erklärt sich unter anderem aus dem sogenannten Carpenter-Effekt. Der Carpenter-Effekt (1852, auch „ideomotorischer Effekt“ genannt) bezeichnet das Phänomen, dass das Wahrnehmen einer bestimmten Bewegung die Tendenz zur Ausführung eben dieser Bewegung auslöst. Im Bezug auf die Stimme hat man untersucht, dass im funktionellen Nachvollzug vor allem der Stimmklang, die Prosodie (Melodisierungs- und Akzentuierungsmuster), die Sprechgeschwindigkeit und die Artikulation übernommen werden. Durch die Entdeckung und zunehmende Erforschung der Spiegelneurone wird dieser Effekt noch unterstrichen. Der funktionelle Nachvollzug, der alleine durch Visualisierung oder durch das Denken stimuliert wird, wird in Disziplinen wie Instrumentalunterricht, Stimmbildung, Sport oder im Sprachunterricht gezielt genutzt.

Welchen Wert misst unsere Gesellschaft aber der Stimmgesundheit bei, wenn bei der Wahl von Ausbildenden und Lehrenden im Primarbereich und Kindergarten überhaupt kein Anspruch an eine gesunde und vorbildhafte Stimmgebung gestellt wird, wo die Vorbildwirkung doch bereits wissenschaftlich untersucht und erforscht wurde? Die Prävalenz von Heiserkeit bei Kindern betrifft 6 bis 24 Prozent der Kinder in Europa. Würde die Pädagogenstimme ausreichend geschult, trainiert und durch bessere Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz akustisch und psychisch unterstützt werden, könnte sich diese Quote vielleicht senken lassen. Denn auch die emotionale Verfassung hat einen großen Einfluss auf die Stimme eines Menschen. Über „Gesundheitsrisiken und Gesunderhaltung der Pädagogenstimme“ bekamen die Teilnehmenden des Symposiums bei dem gleichnamigen Vortrag von Dr. Berit Schneider-Stickler hervorragend referierte Informationen. Dieser wurde inhaltlich gut ergänzt und weitergeführt durch den Vortrag von Dr. Piet Kooijman, der Therapie und Rehabilitationsmöglichkeiten der Pädagogenstimme aufzeigte.

Wenn man in verschiedenen Lexika nach Definitionen und Erklärungen des Phänomens Interdisziplinarität sucht, kann man inhaltlich folgende Aussage zusammenfassen: Unter Interdisziplinarität versteht man die Nutzung von Ansätzen, Denkweisen oder zumindest Methoden verschiedener Fachrichtungen. Eine interdisziplinäre oder fächerübergreifende Arbeitsweise umfasst dabei mehrere voneinander unabhängige Einzelwissenschaften, die einer (meist wissenschaftlichen) Fragestellung mit ihren jeweiligen Methoden nachgehen.

Wissenschaftliche Forschung ist durch arbeitsteilige Prozesse gekennzeichnet. Spezialisierung in einzelne Fächer ist die Konsequenz. Allerdings ist die Wirklichkeit, die die wissenschaftliche Forschung reflektiert, vielschichtig und komplex. Eine Unterteilung in Einzelwissenschaften, die rein willkürlich ist, findet in der Wirklichkeit nicht statt; die Probleme sind nicht entsprechend den disziplinären Grenzen geschnitten, sondern umfassen meist mehrere Fächer. Forschungsfragen können also häufig nicht aus einem einzelnen Fach heraus beantwortet werden. Es ist vielmehr eine Zusammenarbeit zwischen (=inter) den Disziplinen gefragt. Ein Teil der neueren wissenschaftlichen Fachrichtungen, wie etwa die Biochemie, sind aus einer solch beständigen interdisziplinären Zusammenarbeit entstanden.

Beim Leipziger Symposium konnte man deutlich spüren, dass den Medizinern der Umgang mit der Interdisziplinarität schon aufgrund der Besonderheit und Größe ihres Faches geläufig ist. Im schulmedizinischen Alltag hat diese Interdisziplinarität für betroffene Patienten manchmal etwas Unpraktisches und Unbefriedigendes, nämlich die Aufspaltung einer Krankheit in viele, teils unübersichtliche Einzelsymptome mit unterschiedlichen Behandlungen durch verschiedene Fachärzte, was dann leider oft nicht zu einer allgemeinen Gesundung, sondern bestenfalls zur Besserung einzelner Symptome führt. Auf wissenschaftlicher Ebene spürt man jedoch ein routiniertes Neben- und Miteinander der einzelnen Mediziner, wohingegen sich bei den Musikern in den auf die Vorträge folgenden Diskussionsrunden eher eine „wer hat Recht?“-Dynamik entwickelte. Dies mag mit an der Tatsache liegen, dass sich die berufliche Kompetenz der Musiker sehr individuell entwickelt und sich ihre Handlungsalternativen stärker aus persönlichen Erfahrungen als aus wissenschaftlich erforschten Fakten speisen. Demzufolge sind auch die Bewertungen entsprechend subjektiv. Dies führte leider dazu, dass manche Diskussionsrunde weniger der fachlichen Vertiefung als der Rechthaberei diente. Hier wie auch im Bereich der Präsentationsqualität ließe sich interdisziplinär von den Medizinern einiges lernen!

So muss man generell aufpassen, dass sich das Bemühen um die Kinderstimme und den idealen Stimmklang nicht dem Wettstreit der Religionen im Bezug auf den wahren Weg zu Gott angleicht, wo sich Religionen nicht um die möglichen Erkenntnisse und Offenbarungen ergänzen, sondern um die Erkenntnis des einzig wahren Weges zu Gott streiten und ihr Dogma verteidigen. Zwischen den unterschiedlichen fachwissenschaftlichen Disziplinen, grob gesagt zwischen Medizin und Musik, war dies während der drei Tage kein Problem. Schwierig wurde es eher unter den Musikern und hier ganz besonders unter den Gesangs-pädagogen. Vielleicht gibt es nicht nur verschiedene Wege zu Gott, sondern auch mehrere Wege zur Stimmentwicklung. Letztere Frage lässt sich vielleicht im Laufe der nächsten Generationen empirisch beantworten. So wirft jedes Leipziger Symposium ausreichend Stoff für das nächste auf. Auf welches Thema dieses abzielt, ist leider noch nicht bekannt.
 

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