Hauptrubrik
Banner Full-Size

Auf dem Weg zum rettenden Christbaum

Untertitel
Neue Pop-CDs im Prolog der winterlichen Phonowelt
Publikationsdatum
Body

Die vermeldenswerten Nachrichten der Popwelt werden karger. Die Preisverleihung COMET kennt keiner über dem zwölften Lebensalter, Bruce Springsteen handelt bei Sony/BMG einen 114-Millionen-Dollar-Vertrag aus (offensichtlich auf Lebensdauer) und Deutschland lässt sich von Robbie Williams verulken, der nicht ein Instrument unfallfrei spielen kann, in den USA kein Bein auf den Boden bekommt, dafür aber Millionen und kreischende Fans kassiert. Langweilig.

Visionär sollte man den nahenden phonetischen Audiorausch bei zwei essentiellen Weihnachts-CDs belassen. Es bietet sich an die Kompilation „Snow 3 – The Get Easy! Christmas Collection III“ zu erwerben, die ersten beiden waren ein Erfolg und selbst 2005 freut man sich über 24 Adventsklassiker (Raritäten aus den 60/70ern) von Bing Crosby, Ella Fitzgerald, Dean Martin, The Temptations oder Beach Boys und anderen. Dazu passt die Veröffentlichung „11 Top Musical Stars – Christmas Stories“; nichts weiter als elf Musical Stars (von Evita, Mamma Mia, Elisabeth, We Will Rock you oder 42nd Street), die ihre persönlichen Weihnachts- Schlager auf einer CD verewigten.

Unbeeindruckt vom kommenden Fest wirkt Richie Hawtin mit „DE9/Transitions“ weiter, dem dritten Werk seiner DE9 Mix Compilation Reihe. Soundcollagen zwischen urbaner Rockmusik und snobistischer Technowelt sind sein Anliegen. Elektronisch und betörend formuliert, oft engstirnig aber insgesamt sehr spannend. „DE9/ Transitions“ erscheint als DVD + CD mit 96-minütigem 5.1-Dolby-Surround-Mix, einem 96-minütigen Stereo-Mix, zwei Musik-Videos, einer Erläuterung des DE9-Konzepts, Ausschnitten der Plastikman-Live-Gigs und eine 74-minütige Stereo-Version des Mixes auf der CD. Danke Nikolaus, darf man da sagen. Pieta Brown kommt da auf ihrem Album „in the cool“ mit extrem viel weniger aus. Die Wurzeln und Grenzen zwischen Folk, Country, Blues und Rock lotet sie geschickt aus, denn man verliert sein Herz in und an Pieta Brown nach wenigen Sekunden. Traurige wie groovende Songs umgarnen die Hörerseele und fädeln so patent die trübselige Jahreszeit ein.

Lisa Miskovsky ist 29, Schwedin und Profi- Snowboarderin. Entspannung vom Wettkampf findet sie beim Songwriting, das hat sie ganze 13 Mal auf „Fallingwater“ nicht unkundig dargelegt. Als Hörer findet man sich in den Regionen um Sheryl Crow, Heather Nova, Faith Hill oder Jewel wieder, stellt aber schnell fest, dass die nordische Wehmut in den Songs der Lisa Miskovsky zu einem eigenen Charakter verhilft und das Album somit mehr als hörenswert macht. Mozez (Osmond Wright) wuchs als Sohn eines Ministers in Manchester, Jamaika, auf. Seine Vorbilder heißen Marvin Gaye und Otis Redding. Und Mozez hat ohne weiteres die Stimme, das Timbre und den „Drive“ den beiden nachzufolgen. Mozez entführt uns in seine Musikwelt ohne Allüren. Es gibt Soul, es gibt Elektro, es gibt Blues und natürlich R&B. Das gute daran: Mozez winkt nicht mit den Zaunpfahl. Bei ihm fließt eines ins andere und ergibt letztendlich einen homogenen Song, der mit wärmsten Herzavancen gefüllt ist. Unbedingt antesten.

Boozed kommen aus der Provinz Bramsche und sind damit ein nationales Eigengewächs. Ein zu beachtendes noch dazu, denn wie unverbraucht man Vorbilder wie AC/DC, Stones, oder Deep Purple in den eigenen Sound einbauen kann, zeigt Boozed (im Band-Durchschnitt knapp 20 Jahre) imponierend. Tragend und im Gedächtnis bleibend erweist sich die Stimme des Sängers, die sich für das angegebene Alter fast schon Besorgnis erregend rau anhört.

Komplett verrückt darf man das Experiment-Album „Martell présente son interprétation personelle du post-pop“ einstufen. Der Sänger, Komponist und Schlagzeuger Martell Beigang (etwa Swinger Club oder Dick Brave & The Backbeats) hat einfach mal alles an Schnipsel, Ideen und Fragmenten gesammelt, was zu einem Popsong gehört. Das Urkomische daran: Er hat es so gelassen, nichts bearbeitet und mit 20 Musikergästen die Atomteilchen als Kreativzelle verwendet, um neue Songs entstehen zu lassen. Dass sich Kontrabass und Rockgitarre treffen oder Sägen mit Orgeln verzahnen, scheint bei Martell also dann doch weniger Experiment zu sein. Es hat fast den Anschein, dass er genau wusste, was herauskommt, wenn dieses Experiment mit Probanden Lisa Bassenge, Xaver Fischer oder Rhani Krija (Sting) losgeht. Ein Album fürs Risiko. Sarah Morrow & The American All Stars in Paris gingen neue Wege. Eigentlich ist die von Ray Charles entdeckte Posaunistin Sarah Morrow ja im Funk zu Hause, doch die Stadt der Liebe inspirierte sie derart, dass sie sich sämtliche American All Stars ins Studio holte und Swing Standards in bezaubernder Manier und mit jeder Menge Pep einspielte. „Love For Sale“ von Cole Porter, „I Got it bad and that ain’t good“ von Duke Ellington oder „All Star Boogie“ von Sarah Morrow sind einfach charmant und unüberhörbar.

Den Rest zum Fest bekommen wir dann von Eileen Rose und „Come The Storm“. Mit ihrem dritten Album macht Eileen Rose einen großen Schritt heraus aus dem Schatten kollegialer Songwriterinnen. Einfühlsame Songs zwischen Rock, Pop, Country- und/oder Indiefolk prägen ein typisches amerikanisches Volksmusik-Album. Gitarren weinen, Pianos jubilieren, Eileen Rose hält alles gnadenlos zusammen und öffnet kleine Advents- Kalender-Türchen, die Licht und Herzschmerz versprühen.

Diskografie
• V.A.: Snow 3 – The Get Easy! Christmas Collection III (18.11.2005, Brunswick)
• V.A.: 11 Top Musical Stars – Christmas Stories (21.10.2005, Fireball)
• Richie Hawtin: DE9/Transitions (31.10.2005, Novamute)
• Pieta Brown: in the cool (11.11.2005, One Little Indian)
• Lisa Miskovsky: Fallingwater (4.11.2005, Stockholm Records)
• Mozez: So Still (31.10.2005, Apace Music)
• Boozed: Tiger Pants (18.11.2005, Bitzcore)
• Martell présente son interprétation personelle du post-pop (4.11.2005, Caramelle)
• Sarah Morrow & The American All Stars in Paris (16.11.2005, Loop Productions)
• Eileen Rose: „Come The Storm“ (4.11.2005, Rough Trade)

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!