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Jörg Widmann beim wissenschaftlichen Symposium „Spuren“ über den und mit dem Komponisten unter der Leitung von Hans-Klaus Jungheinrich 2012 an der Alten Oper Frankfurt. Foto: Charlotte Oswald
Jörg Widmann beim wissenschaftlichen Symposium „Spuren“ über den und mit dem Komponisten unter der Leitung von Hans-Klaus Jungheinrich 2012 an der Alten Oper Frankfurt. Foto: Charlotte Oswald
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Auf der Suche nach dem Ariadne-Faden

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Jörg Widmanns neues Orchesterwerk „Drittes Labyrinth“ bei „Musik der Zeit“ in Köln
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Das „Labyrinth“ begann mit einem Wettlauf gegen die Zeit: Eine Woche vor der Premiere lagen noch nicht alle Noten vor. Neue-Musikchef Harry Vogt raste mit den eingehenden Resten der Partitur von seinem Büro im WDR eilends zum probebereiten WDR-Sinfonieorchester in die Kölner Philharmonie. Musiker und der erfahrene Dirigent Emilio Pomàrico behielten die Nerven und sicherten der Uraufführung eine eindrucksvolle Wiedergabe: sind eben erfahreneProfis, die Instrumentalisten der Rundfunksinfonieorchester, für die Neue Musik unverzichtbar und nicht ersetzbar durch ein „normales“ Kulturorchester, das gar nicht die Zeit zu langem Partiturlesen und Einstudieren hätte. Von Köln gingen die Gedanken dabei gen Südwesten zum SWR: Dort werden gerade zwei hochkompetente Orchester der Neuen Musik in eine neblige Fusion „versetzt“. Es wäre an der Zeit, den Status unserer Radiosinfonieorchester in einer festen und verbindlichen Form zu sichern, damit nicht jeder Intendant samt Rundfunkrat tun und lassen kann, was ihm gerade mal so durch den Kopf rauscht.

Die letzten Musiktage in Donaueschingen stellten große Formen in den Fokus. Dies geschah nicht ohne Absicht. Die komponierte Großform bedingt ja fast zwangsläufig den Einsatz eines großen hundertköpfigen Symphonieorchesters, mit dessen gleichsam unendlichen Klangmöglichkeiten. Die Sinfonik von Anton Bruckner oder Gustav Mahler mag hierfür als Ausgangsposition dienen. Doch schreiben die heutzutage produktiven Komponisten auch für die in den letzten zwanzig, dreißig Jahren gegründeten kleineren Ensembles, die mit hochspezialisierten zwanzig bis vielleicht vierzig Musikern besetzt sind. Manch einem Rundfunkintendanten dient das nun als Argument, die hauseigenen Symphonieorchester zur Disposition zu stellen.

Was unsinnig ist. Denn gerade viele der jüngeren Komponisten drängen mit ihren Werken wieder zum großen Orchester und dessen expansiven Klangmöglichkeiten. Zumal in der Oper hatten sie es eines Tages satt, immer nur neue Kammeropern für die Opernstudios zu schreiben – Neue Musik für das „Wohnzimmer“, wie man spottete; sie wollten mit ihren Imaginationen auf die Bühne ins Große Haus, mit großem Orchester, Chor und entsprechender Optik. Dieses legitime Verlangen scheint jetzt auch die Komponisten der reinen Instrumentalmusik wieder neu ergriffen zu haben. Die Konzerte der Münchner „Musica viva“ mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks liefern dafür mit schöner Regelmäßigkeit mal weniger, oft aber umso mehr eindrucksvolle Beweise.

Aber auch die „Musik der Zeit“-Konzerte des Westdeutschen Rundfunks warten immer wieder mit spannenden Novitäten auf. So wie jetzt mit der Uraufführung einer neuen Orchesterkomposition von Jörg Widmann. Titel: „Drittes Labyrinth“ für Sopran und Orchestergruppen. Ein großes Werk, es dauert fünfzig Minuten. Es entstand im Auftrag des WDR sowie zweier weiterer Institutionen in Porto und Amsterdam.

Widmann befasst sich mit dem Mythos des Labyrinths. Er projiziert dessen verschlungene Wege, Spiegelungen, Vervielfältigungen, Täuschungen, Verrätselungen und tödliche Zugriffe aufs eigene Komponieren. Wie komponiert man heute? Es gibt keine verbindliche Ästhetik. Jeder Komponist ist ein Einzelkämpfer, der sich seinen Weg (seine Wege?) allein suchen muss. Das große Orchester stellt sich als eine andere Form des Labyrinths dar. Der Komponist dringt in die Klanghöhlen, die ins-trumentalen Wegmarkierungen, die oft raffinierten Täuschungsmanöver ein, immer auf der Suche nach dem rettenden Ariadne-Faden, der ihm den Weg weist – wohin?

Das bleibt auch in Jörg Widmanns komponiertem „Labyrinth“ die weiterhin offene Frage. Gleichwohl gelingt ihm mit seiner dritten „Labyrinth“-Expedition das, was man einen großen Wurf nennen muss. Aus den beiden vorhergehenden „Labyrinth-Fassungen“ wurden bestimmte Materialien übernommen, auch instrumentale Kombinationen: zwei Harfen, zwei Flügel, zwei Cimbalons, Zither und Gitarre erweitern das Klangbild auf äußerst prätentiöse Manier, wirken irgendwie retrospektiv, zeitlos, wie der Mythos selbst.

Jörg Widmann gewinnt diesem gewaltigen Klangapparat – ohne Trompeten, kein tiefes Blech, nur sechs dunkle Farben spendende Hörner, die Geheimnisvolles verkünden – eine faszinierende Mehrschichtigkeit ab. Auf der Suche nicht nur nach besagtem Ariadne-Faden, sondern wohl auch nach einer neuen symphonischen Großform. Und: nach dem höheren Sinn des Komponierens in unserer Zeit. Wenn Helmut Lachenmanns großes Orchesterwerk mit acht Hörnern, das eigentlich demnächst bei der Münchner „Musica viva“ uraufgeführt werden sollte, etwas später erschienen ist, wird man vielleicht genauer erkennen können, wohin dieses „Komponieren“ führen mag.

Das „Labyrinth III“ öffnet zugleich auch den Weg zu einer Quasivokalisierung instrumentaler Musik: Eine Sopranistin, es ist die großartige Sarah Wegener, wandert durch den riesigen Raum der Kölner Philharmonie. Aus Lauten und Vokalisen wachsen Textpartikel hervor, Nietzsches „Unbekannter Gott“, bis am Ende in einem Akt höchster Vermählung Ariadne mit dem Labyrinth verschmilzt. Auch diese dritte Widmannsche „Labyrinth“-Komposition fasziniert durch ihren Perspektivreichtum. Dies wurde im „Musik der Zeit“-Konzert nicht zuletzt durch die Kombination mit den „Dialogue de l’ombre double“ für Klarinette und Live-Elektronik von Pierre Boulez deutlich. Dieses „Spiegel-Schattenspiel“, komponiert im Jahr 1985, könnte man als eine Art Ouvertüre zum Widmann-Stück betrachten. Jörg Widmann selbst spielte die Klarinette im doppelten Schattenspiel mit einer staunenswerten Kombination aus technischer Perfektion und klangsinnlicher Ausdruckskraft. Und das WDR Sinfonieorchester Köln unter Emilio Pomàrico verdient ein Sonderlob für seinen bewundernswerten Einsatz: Die letzten Noten der Widmann-Partitur wurden erst in der letzten Probenwoche nachgeliefert.

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