Hauptbild
Eine Vielfalt von Aktivitäten beim „Kulturrucksack“ der Musikschule Bochum. Fotos: Frank Oppitz
Eine Vielfalt von Aktivitäten beim „Kulturrucksack“ der Musikschule Bochum. Fotos: Frank Oppitz
Banner Full-Size

Aus der Not eine Tugend gemacht

Untertitel
„Kulturrucksack“ an der Musikschule Bochum
Autor
Publikationsdatum
Body

Die Musikschule Bochum beschäftigt sich intensiv mit der Frage, wie man die Möglichkeiten der Musik für die Integration zugewanderter Menschen einsetzen kann. (s. auch nmz 4/16) Erstmalig nutzte sie den „Kulturrucksack“: eine kulturelle Initiative des Landes NRW für 10–14jährige Kinder. Es geht dabei nicht nur um Musik, sondern auch um die anderen kulturellen Erscheinungsformen, aber vor allem geht es um den Erstkontakt mit kultureller Aktivität.

Den Kulturrucksack kann man als die Antwort der rot-grünen Landesregierung auf JeKi sehen. Zunächst hatte die schwarz-gelbe Regierung von Jürgen Rüttgers mit „JeKi – Jedem Kind ein Instrument“ im Jahr 2007 einen überraschend kräftigen Impuls in die musikpädagogische Landschaft gesetzt. Nach dem Regierungswechsel zog die nachfolgende SPD/Grünen-Regierung mit einer eigenen Initiative nach: Der „Kulturrucksack“ entsprach eher einer an linker Politik orientierten kulturellen Bildung. JeKi wurde trotzdem weiter gefördert, zunächst ohne Abstriche, aber „mit spitzen Fingern“, da es sich um eine Initiative der konkurrierenden politischen Strömung handelte.

Getreu dem Ziel der Landesregierung, das Land zum „Kinder- und Jugendkulturland“ zu machen, wurde mit Kommunen und Kultureinrichtungen das Landesprogramm „Kulturrucksack Nordrhein-Westfalen“ erdacht. Es wendet sich ausschließlich an Kinder zwischen 10 und 14 Jahren. Kommunen oder Verbünde, in denen mehr als 3.500 Kinder dieser Altersgruppe wohnen, können sich beteiligen. Seit 2012 stehen jährlich rund 3 Millionen Euro zur Verfügung. Die Förderung von 4,40 Euro pro Kind geht jährlich an die Kommunen, die wiederum Projekte von Theatern, Museen, Künstlern, freien Initiativen, Vereinen, Kirchengemeinden, Jugendzentren und Jugendkunstschulen bezuschussen. Gefördert werden einmalige Workshops, Kurse, Festivals und Ferienprogramme. Sie sollen kostenlos oder deutlich kostenreduziert sein und alle Kunst- und Kultursparten sowie kreative Bereiche der Jugendkultur abdecken: neben Musik auch Bildende Kunst, Foto/Film/Audio/Medien, Tanz, – auch Angebote der Theater und Museen.

Musikschulen beteiligen sich bisher kaum am Kulturrucksack. Das könnte am Fokus auf Niedrigschwelligkeit und Kurzfristigkeit der Angebote liegen. Oder auch daran, dass die Projekte deutlich partizipativ und eigenschöpferisch orientiert sein sollen. Solches Denken ist an Musikschulen aber noch deutlich unterrepräsentiert. Sie sind viel empfänglicher für langfristige Programme wie JeKi oder das Nachfolgeprogramm JeKits.

Besondere Umstände haben der Musikschule Bochum zu einer exemplarischen Erfahrung mit dem Kulturrucksack verholfen. Angesichts der Dramatik der Fluchtbewegungen stattete die Landesregierung mitten im Jahr 2016 einige Programme der kulturellen Bildung mit zusätzlichem Geld aus – dringend benötigte Mittel, die aber bis zum Jahresende vollständig ausgegeben sein mussten. Einigen Musikschulen wurden erhebliche Sondermittel des Kulturrucksacks (50.000 Euro) für kulturelle Projekte mit geflüchteten Kindern in Aussicht gestellt. Ein wahrer Geldsegen, der aber mit der Herausforderung verbunden war, Projekte erheblichen Umfangs extrem kurzfristig zu planen und durchzuführen. Es entstand die skurrile Situation, endlich einmal ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung zu haben, aber nicht genug Zeit, das Geld bis zum Jahresende auszugeben. Etliche Musikschulen mussten passen.

Die Musikschule Bochum machte aus der Not eine Tugend und lud Initiativen und Akteure der Flüchtlingshilfe, Migrantenselbstorganisationen und soziale Unterstützer zu einem Gemeinschaftsprojekt ein. Unter dem Motto „Meine Musik – für Vielfalt, Respekt und Toleranz“ entstanden viele Aktionen mit der Leitidee, „Offene Gesellschaft“ zu leben und sich für sie einzusetzen.

Dem Gemeinschaftsprojekt gelang es, Kinder und Jugendliche in Aktionen einzubinden, in denen sie im konkreten Umgang mit Musik, Tanz und Darstellung positive Erfahrungen mit kultureller Praxis gewinnen und ihre eigene Geschichte und ihren Erfahrungshorizont (Bedrängnis, Flucht, Fremdheit) in kultureller Praxis reflektieren und verarbeiten konnten.

Sie nahmen das Projekt als Angebot der Integration in die einheimische Gesellschaft wahr und erfuhren auf diesem Weg die praktische Bedeutung der Werte Respekt und Toleranz, konnten sie einüben und lernen sie wertzuschätzen. Die teilnehmenden Kinder waren junge Migranten, vor kurzer oder längerer Zeit geflüchtet, aber auch einheimische Kinder mit großer Distanz zu jeglicher Form kultureller Praxis.

Zustande kam eine Vielfalt von Aktivitäten: viele Sing- und Trommelaktionen in Wohngruppen und Schulen, Theater- und Tanzprojekte, HipHop-Perfomance-Training. Die Musikschule selbst beteiligte sich mit nur einem kleinen Teil der Aktionen. Den Löwenanteil bestritten die Partner X-Vision Ruhr, IFAK e.V. – Verein für multikulturelle Kinder- und Jugendhilfe und Migrationsarbeit, DARF e.V. – Deutsch Afrika Ruhr Forum, HaRiHo – Die Stadtteilplaner, Internationaler Kulturverein Wattenscheid e.V., DIDF Bochum, Nelson Mandela-Schule (Sekundarschule) und Willi-Brandt-Gesamtschule.

Die einzelnen Initiativen arbeiteten auf das gemeinsame Abschlusskonzert mit den mehr als 100 Beteiligten hin. Es fand im neuen Anneliese Brost Musikforum Ruhr statt, das die Konzerte der Hochkultur mit den Bochumer Symphonikern und der Musikschule beherbergt. In diesem Haus war das Erlebnis der Vielfalt und der gesellschaftlichen Akzeptanz überwältigend.

Eine Foto- und Filmdokumentation als Download kann in der Musikschule Bochum angefordert werden. Mail: Musikschule [at] Bochum.de (Musikschule[at]Bochum[dot]de)

Ort
Autor
Print-Rubriken
Unterrubrik