Hauptrubrik
Banner Full-Size

„Aus der Werkstatt eines Ohrendenkers“

Untertitel
Das Münchner Pfingstsymposion 2014 umkreist unter dem Titel „ohrendenken“ den Prozess des Hörens
Publikationsdatum
Body

Ein Musiker (sic!) konnte gerade noch verhindern, dass in den letzten Minuten das Münchner Pfingstsymposion 2014 im Orff-Zentrum von „ohrendenken“ in „ohrenfühlen“ umbenannt wurde. Nicht selten, dass Liebhaber jeglicher Kunst ihr das Denken absprechen wollen, als sei es eine verwerfliche Eigenschaft. Doch ohne das Denken wäre jede Kunst nur inhaltsleerer Zierrat. Selbst wenn Carola Bauckholt Alltagsgeräusche oder Tierstimmen, wie von der Komponistin in die Thematik eingeführt, auf Musikinstrumente überträgt oder sie Kompositionen zuspielt, geschieht dies nicht ohne wohldurchdachtes Klangforschen, Ordnen und Arrangieren. Zumal wenn das Ergebnis für die Reproduzierbarkeit notiert werden muss.

Spätestens im Vortrag der Komposition „In gewohnter Umgebung III“ von Bauckholt für Violoncello (Caspar Johannes Walter), präpariertes Klavier (Helena Bugallo) und Videoprojektionen, in der eben Akustisches und Visuelles in eine Synthese traten, stellte sich die Frage nach der Funktionsweise der Wahrnehmung. Doch leider war selbst die Bemerkung der Psycholinguistin Anke Werani in der letzten Veranstaltung, dass wahrnehmungspsychologisch betrachtet das Hören nicht im Schwingungen empfangenden Ohr, sondern im Gehirn vollzogen wird, untergegangen. So gesehen bezeichnet „ohrendenken“ schlicht den kognitiven Hörvorgang selbst.

Doch Ulrike Trüstedt, die 1990 das Pfingstsymposion gegründet hatte und es seither konzipiert und realisiert, schwebte etwas anderes vor. Der Titel einer Antrittsvorlesung vor dem Collége de France von Pascal Dusapin übersetzt als „Musik, Paradox, Flux – Aus der Werkstatt eines Ohrendenkers“ weckte ihr Interesse an der Thematik. „Ich bin ein ‚Schreibtischmusiker‘, von diesem Ort aus entfaltet sich das Ohrendenken“, bekannte er sich zum intellektuellen Vorgang, bezugnehmend auf Adornos „Wer gewohnt ist, mit den Ohren zu denken…“, von Trüstedt sinngemäß mit „…wird hellhörig“ vervollständigt. Den auf die Skepsis gegenüber dem Begriff der Kulturkritik abzielenden Gedanken Adornos verallgemeinernd, stellte sie ihn dem Symposium voran.

Hinterfragen ist ein wichtiges Instrument, auch wenn statt Antworten offene Fragen zurückbleiben. Etwa: Was passiert musikalisch, wenn Klänge der als real verstandenen Welt mit Musikinstrumenten und Singstimmen imitiert werden? Und hätten René Des-cartes und George Berkeley schon gewusst, wie die menschliche Wahrnehmung funktioniert, hätten sie „zwei Positionen der philosophischen Neuzeit“ bezogen? „Sinneswahrnehmung – Weltverständnis – Ästhetisches Urteil“, überschrieb Philosophin Angelika Bönker-Vallon diese Gegenüberstellung von „cogito ergo sum“ (Ich denke, also bin ich) und „esse est percipi“ (Sein ist Wahrgenommenwerden). Existiert also Musik, weil sie gedacht ist, oder weil sie wahrgenommen wird? Gehören nicht vielmehr der denkende Komponist und der empfangende Hörer unbedingt zusammen, um Musik wahr werden zu lassen?

Elen Flügge, die gerade in Berlin über Silent Sound Art etwa von Peter Ablinger, Akio Suzuki, John Cage oder La Monte Young promoviert, wagte es weiterzudenken. Und wieder begegnete sich die sogenannte reale Welt mit der gedachten, wie es schon im Höhlengleichnis Platons von Bönker-Vallon als „objektiver Idealismus“ skizziert wurde. Doch hier etwa in Ablingers Hörskulptur „Sitzen und Hören“ mit einer Rückkoppelung: Im öffentlichen Raum in Reihen aufgestellte Stühle suggerieren eine Konzertsituation. Doch der Hörer wird keiner komponierten Musik gewahr, sondern der dort alltäglichen Geräusche. Damit vergleichbar auch die Bodenskulpturen „oto-date plate“ Suzukis: Bodenmarkierungen, die dazu auffordern, dort innezuhalten und den Klang der Umgebung bewusst wahrzunehmen.

Bewusstheit fand auch per Videoaufzeichnung in einer psychotherapeutischen Wahrnehmungsübung von Nanna Michael statt. Die angewandte Dyade ist eine klar strukturierte Zweierkontemplation, die offenbarte: In-sich-Hineinhören ist zugleich Nach-außen-Öffnen.

„Metal, Wood and Wire“ mit Ardhi Engl und Geoff Goodman setzte dieses Prinzip in musikalischer Praxis um. Leider vergab das vom unvorbereiteten Wolf-Dieter Trüstedt geführte Podiumsgespräch mit den Musikern die Chance, den Vorgängen in einer Ad-hoc-Improvisation nachzugehen, vermochte sie Trüstedt vom Prinzip einer Jazzimprovisation nicht zu unterscheiden. In der intuitiven Ausführung konnte die sich über intellektuelle Grenzen weitgehend hinwegsetzende Öffnung jedoch akus-tisch wahrgenommen werden.

Großes Interesse fand abschließend das spannende Experiment, „ROAI V [midi ballade]“ von Minas Borboudakis drei Mal in veränderter räumlicher Disposition zu wiederholen. Das Werk für Bassklarinette (Bettina Faiss), Viola (Klaus-Peter Werani) und Klavier (Borboudakis) ist die Übertragung einer elektronischen Komposition auf analoge Instrumente. Die jeweils sich als überaus individuell-subjektiv entpuppende veränderte Wahrnehmung des Werkes machte noch einmal deutlich, wie weit das Hören von Objektivität entfernt ist. Wahrnehmen sei ein integrativer Prozess, klärte Anke Werani zuvor auf. Quod erat demonstrandum.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!