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Bach im boomenden Bergdorf

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Das Verbier-Festival wächst auch in seinem zwölften Jahr
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Verbier wächst und wächst. Entsprechend dem Bauboom in dem schweizerischen Bergdorf, dessen Hänge sich immer dichter mit Chalets füllen, hat sich auch das Konzertangebot ausgeweitet.

Um der wachsenden Nachfrage zu begegnen, gibt es bei diesem 1994 begründeten Festival seit diesem Sommer allabendlich zwei Konzerte. Man darf nun zwischen Kirche und Konzertzelt wählen: Will man beispielsweise Schumanns „Dichterliebe“ mit Thomas Quasthoff hören oder lieber Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ mit Salvatore Accardos Kammerorchester? Viele entschieden sich an diesem Abend für Quasthoff. Nach einer umjubelten „Winterreise“ im Vorjahr, mit James Levine am Klavier, hatte er erst wenige Tage zuvor, begleitet von Evgeny Kissin, erneut Schubert-Lieder gesungen. Bei der „Dichterliebe“ folgte Elena Bashkirova, die für Martha Argerich eingesprungen war, den starken Impulsen des Sängers. Dabei stellte dieser mit oft gedehnten Tempi die tragische Seite der Heine-Gedichte in den Vordergrund, die Verzweiflung in „Ich grolle nicht“ oder die tiefe Melancholie in „Ich hab im Traum geweinet“. Die trotzige Entschiedenheit, mit der Quasthoff sich im Schlusslied („Die alten bösen Lieder“) von dieser schweren Last befreite, wirkte so bewegend, als spräche er von eigenen Erfahrungen. Auch die enthusiastische Wiedergabe der „Vier ernsten Gesänge“ von Brahms, die er einer Freundin zudachte, gefolgt von schwungvollen Zugaben wie Schumanns „Widmung“ oder „Swing Low, Sweet Chariot“, bestätigte den oft autobiographischen Charakter seines Musizierens.

Thomas Quasthoff liebt sein Publikum und dieses ihn. Das zeigte sich auch an seiner regelmäßig überfüllten Meisterklasse, die sich mindestens so sehr an die Zuhörer richtete wie an die aktiven Teilnehmer. Lieder sind für Quasthoff nicht Vehikel für in ihre Stimme verliebte „Kammersänger“, sondern kleine Dramen, Mitteilungen ans Publikum.

Das genaue Textverständnis wird vorausgesetzt. Jeder Sänger und jede Sängerin musste deshalb jeweils den Inhalt des nachfolgenden Liedes erläutern. Dabei verzichtete der Lehrer nicht auf Strenge („I’m the boss“) oder darstellerische Drastik, etwa beim lauten Eselsruf im Wunderhorn-Lied „Lob des hohen Verstands“. Fast so wichtig wie die Stimme sind ihm die Körpersprache und die Augen, „das Ausdruckszentrum des Liedersängers“. Schon vor dem ersten Ton müssen diese der dramatischen Situation entsprechen und in die richtige Richtung gehen.
Das gleichberechtigte Nebeneinander von Konzerten und Meisterklassen gehört zu den Charakteristika von Verbier. Man nimmt sich hier Zeit für Musik, beobachtet die Entwicklung junger Talente und schult dabei das eigene Musikverstehen. Für den stark vertretenen Geigernachwuchs (unter ihnen auffallend viele Chinesinnen) war die Meisterklasse von Zakhar Bron besonders attraktiv. Anders als die übrigen Lehrer sprach der berühmte Pädagoge allerdings nicht Englisch, was die Kommunikation erschwerte. Geigerische Sternstunden erlebte man in den Konzerten, so bei klangschönen Werken von Dvorák, Schostakowitsch und Hellmesberger mit Ilya Gringolts, Janine Jansen, Leonidas Kavakos, Julian Rachlin, Dmitri Sitkovetsky, Nikolaj Znaider, Yuri Bashmet und Lynn Harrell.

Brahms und Schubert sind seit 1994 die hier meistgespielten Komponisten. Im zwölften Jahr stand Johann Sebastian Bach im Zentrum, ohne dass Verbier schon dadurch zu einem zweiten Prades wurde. Mehr noch als die drei Cellosuiten mit Jian Wang bewegten und begeisterten die ebenso spielerischen wie intelligenten Interpretationen der zweistimmigen Inventionen und der Goldberg-Variationen durch den 25-jährigen Martin Stadtfeld, der im Vorjahr für Martha Argerich eingesprungen war. Die blutjunge Alina Ibragimova war beim d-Moll-Doppelkonzert eine sichere Partnerin Gidon Kremers. Den sensiblen Perkussionisten Andrei Pushkarev, Mitglied der Kremerata Baltica, hatten die Inventionen zu swingenden Versionen im Stil von Bill Evans, Oscar Peterson oder Herbie Hancock angeregt.

Trotz des Bach-Schwerpunkts, des Verdi-Requiems (dirigiert von James Levine) und des Beethoven-Sonatenzyklus (gespielt von Garrick Ohlsson) dominierte leichter verdauliche Kost wie etwa ein hochkarätig besetzter „Karneval der Tiere“ von Saint-Saëns (mit Lynn Harrell als Erzähler), die „Folk Songs“ von Berio (charmant gesungen von der wandlungsfähigen Malena Ernman), das ästhetisch zwielichtige „Twilight“ von Kantscheli (mit Gidon Kremer und Yuri Bashmet) oder eine feurige Hommage à Astor Piazzolla (mit Kremer und Freunden). Bashmet, Harrell, Kissin, Kremer, Maisky, Quasthoff und Sitkovetsky kommen regelmäßig nach Verbier. Ein Überraschungsgast war dagegen der junge Venezolaner Gustavo Dudamel, der anstelle von Esa-Pekka Salonen ein Konzert des Festival-Orchesters leitete. Schon mit dem ersten Stück, „Sensemaya“ von Silvestre Revueltas, schlug er die jungen Musiker und das Publikum in seinen Bann. Eminenten Sinn für Rhythmus und klangliche Transparenz bewies Dudamel abschließend auch bei Strawinskys „Feuervogel“. Vielleicht aus Respekt vor der im Publikum anwesenden Dirigierprominenz, darunter Michael Tilson Thomas und James Levine, zeigte er sich abschließend nur noch kurz auf dem Podium. Man wird diesen hochbefähigten Dirigenten ohnehin bald in anderen Konzertsälen erleben können.

Zu den Qualitäten des Festivals gehören sein Werkstattcharakter und die Nähe zwischen Künstlern und Publikum. Kurzfristige Programmänderungen nimmt man in Kauf, kann man doch von morgens bis abends unterschiedliche Musik an vielen Orten, am Marktplatz, an Berghängen oder in Hotelfoyers, hören. Für Martin Engstroem, den Initiator und Gründer des Festivals, bildete Aspen ein Vorbild. Kommunikation ist ihm wichtiger als Repräsentation, weshalb er weiterhin leger im Pullover zu den Konzerten erscheint. Es dominiert ein freundschaftlich-familiärer Ton, der sich auch an der Häufigkeit zeigt, mit der die Künstler sich auf der Bühne umarmen. Nebenbei kommt es zu überraschenden Begegnungen, wenn man etwa erfährt, dass die neben einem sitzende Dame einmal ein berühmter Hollywood-Star war. Die Begegnung mit Musik steht für alle im Mittelpunkt, nicht Glamour oder die Werbung, die zum Glück wieder aus dem Konzertzelt verschwand. Wie der Ort sollte sich allerdings auch das Festival Grenzen des Wachstums setzen, um seinen Charakter nicht zu gefährden.

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