Das Foyer im Intendanzgebäude: 26 mannshohe silbergraue Leichtmetall-Transportkästen mit zwei Harfen, vier Becken, zehn Bässen und zehn Bassstühlen. 26 schwere Teile. Für Orchesterwarte gerade schwer genug, sind halbe Möbelpacker. Einfach Bass vor’m Bauch und losgeschleppt. Vom Intendanz- ins Operngebäude durch unterirdische Tunnel und drei Brandschutztüren, über Unterbühne und 34 Stufen, vorbei an Ecken, Kanten und Kurven. 120 Meter. 26 Mal unbepackt hin, 26 Mal bepackt zurück. Zwischen 15 und 50 Kilo jedes Teil. Rückgeliefert aus der Philharmonie, wo das Orchester des Opernhauses, die Staatskapelle, mit Strawinsky, Schubert und Mozart konzertiert hatte. Schweiß von den Männerstirnen und dann weggestellt: Becken in den Schlagzeug- und zwei Bässe mit Stühlen in den Basskeller. Aber acht der Bässe und Bassstühle sowie die Harfen gleich in den Vorraum zum Orchestergraben für Wagners Tannhäuser. Vorstellungsbeginn in zweieinhalb Stunden.
Im Orchestergraben wird das Dirigentenpodest zehn Zentimeter Richtung Charlottenburg geschoben, nach rechts also, vom Zuschauersaal aus gesehen (links liegt Berlin und wäre die Berliner Richtung). „Der Dirigentenpodest steht bei Tannhäuser immer außermittig, sonst passen nicht alle Bässe in den Graben.“ Michael Frohloff arbeitet seit 17 Jahren als Orchesterwart. „Manchmal geht’s um zwei Zentimeter.“ Nicht nur bei den großen Wagner-Besetzungen, auch bei modernen Inszenierungen: „Es gibt Bühnenbildner, die den Graben szenisch mitbespielen. Da ragen dann Bühnenteile bis tief ins Orchester und man muss zentimetergenau bauen, um auch Musiker reinzukriegen.“
Gebaut wird jetzt bei Tannhäuser. Für erste und zweite Geigen und Bratschen in drei verschiedenen Höhen 20 Podeste aus schweren Holzunterlagen. Im Halbkreis um das höchste, das Dirigentenpodest. „Die sitzen so dicht am Dirigenten, dass sie ihn nicht sehen könnten, säßen sie ebenerdig.“ Dann landen auf den Podesten Stühle und davor Pulte. Das geht ruck zuck. Zwei Stühle, ein Pult, zwei Stühle, ein Pult. Für zwei Streicher immer ein Notenpult. Vor sich vergrößert Frohloff die Bestuhlungsfläche, hinter sich verkleinert er gleichzeitig einen Stapel zusammengeschobener, übereinandergestellter Stühle und Pulte. Rudiment der Cosí fan tutte-Besetzung, die zuletzt gespielte Oper.
Von der Mitte aus wächst der Halbkreis ebenerdig weiter nach links: Mit den restlichen Stühlen für die 16 ersten und 14 zweiten Geigen, die zwölf Bratschen, acht Celli und acht Bässe. Frohloff baut die Barenboim-Variante. Eben: Mitte und links Streicher. „Jeder Dirigent möchte einen anderen Orchesteraufbau. Der eine will in der Mitte die Holzbläser, Barenboim will sie rechts. Der eine will die Bässe rechts, Barenboim will sie links.“ Dem Orchesterwart ist’s egal, nur wissen muss er es. Was wo und wie viel hingehört, hat er bei Tannhäuser im Kopf, hat die Besetzung schon mehrmals aufgebaut, erst letzte Woche wieder. Doch zu klein ist der Cosí fan tutte-Stapel für’s Tannhäuserorchester. Mehr Stühle müssen her. Aus dem Vorraum vom Orchestergraben und dem anschließenden Flur. Frohloff flitzt, schleppt, zählt, stellt. Immer schön dicht bei dicht. Überschlägt den Platz und entscheidet: alle Celli noch dichter zusammen. Passen sonst die Bässe nicht rein. Neu ausrichten. Dann weitere vier Stühle ran, zwischen die Bassstühle als Ablagen für Putztuch und Kolophonium. Zum Schluss die Bässe selber. Hievt die Vierzigpfünder her, packt sie seitlich mit dem Hals auf die Bassstuhllehne und mit der Hüfte auf die Stuhlsitzkante. Eineinhalb Stunden sind ‘rum. Und zugestellt sind Mitte und linke Grabenseite einschließlich Türrahmen vom Orchestergraben: zwei Bassstühle, riesig wie ihr Instrument, finden nur dort Platz. „Acht Bässe ist das Limit für den Graben.“ Frohloff kann sich nur noch seitlich durchs Gestühl drängen, um Probe zu sitzen. Auf jedem einzelnen Stuhl. Mal mit ausgestreckten Armen, mal mit vorgestreckten Beinen. Entsprechend Pult einen Hauch weg- oder zurück- und Stuhl hin- oder hergerückt. Feinarbeit. „Das Cello spielt zur Seite, die Geige nach oben, der Bass braucht vor sich Platz.“ Letzteres weiß Frohloff aus eigener Erfahrung. Ist Freizeitbassist. Spielt U-Musik. Für E-Musik reicht es nicht. „Dazu bin ich zu schlecht.“ Wenn ein Orchesterwart nicht selber mitkriegt, wieviel Minimalraum ein Instrument braucht, dann bringen es ihnen die Musiker bei. „Die sagen dir: Siehst du nicht, dass du mich behinderst. Ich habe eine Posaune, die zieht nach vorn.“
Zum Abschluss Auslegen der Tannhäuser-Noten. Hellgrüner Packen, geordnet nach Instrumenten, Stimmen und Pulten. Von den Orchesterwarten selber sortiert. Zuerst die Partitur auf’s Dirigentenpult, danach die Noten auf die Musikerpulte. „Wir sind dafür da, dass die Musiker kommen, sich hinsetzen, der Dirigent den Taktstock hebt, und los geht’s.“
Die ersten sind schon da, zwei Geiger. Lachen, Scherzen, herzliche Begrüßung. „Ich arbeite gern mit Leuten. Das muss man schon können, man hat 120 Musiker.“ Die zwei schieben sich seitlich zwischen Stühle und Pulte zu ihren Plätzen, Instrumente in Kopfhöhe. Bloß nirgends an- und nichts umstoßen. Und los geht’s: mit dem Einspielen. Andere stimmen in den Stimmzimmern. Es gibt drei für Streicher, Holz- und Blechbläser drüben im Intendanzgebäude. 120 Meter samt Tunnel, Treppen und Türen entfernt. Frohloff ‘rüber, Kopf in die Stimmzimmer wo’s quietscht, schrapt, kreischt und quäkt. „Ist alles Musik für meine Ohren.“ Aber kein Musiker braucht ihn. 120 Meter zurück und hin zu Dietmar Höft. Der dritte Kollege baut die Bühnenmusiken: auf der Charlottenburger und der Berliner Seitenbühne, der Hinterbühne, vor der Intendanten- und der Barenboim-Loge. Auch alles fertig: nur Notenständer, nirgends Stühle, die kurzen Zuspielungen zum Orchester werden im Stehen absolviert.
Die Stimmzimmer leeren, Orchestergraben und Zuschauersaal füllen sich. Über der Orchesterbrüstung hängt interessiertes Publikum. Es kann losgehen, das Bereitschaftslämpchen blinkt. Frohloff hin zum Dirigentenzimmer auf der Charlottenburger Seite, den Dirigenten abholen, ihn begleiten zur Orchestergrabentür Berliner Seite, sie ihm öffnen, warten, bis er sich seitlich durch die Musiker geschoben, sein Podest bestiegen, sich verbeugt hat und die Arme hebt. Dann schließt der Orchesterwart geräuschlos die Tür. Luftholen. Bis Ouvertürenende. Schnell einen Kantinenkaffee drüben, 120 Meter hin, 120 Meter zurück.
Beginn erster Akt. Hin zu den Seitenbühnen zur Bühnenmusik: ein Orchesterwart nach Charlottenburg, einer nach Berlin. Spiel abwarten, dann Notenpulte greifen, in Charlottenburg einen neben dem Bühnenvorhang stellen für die Hirtenmelodie, die restlichen zur Seite räumen, sind erst im dritten Akt wieder dran. Der dritte Mann hoch zur Bühnenmusik vor der Intendantenloge. Dort Spiel abwarten und alle Pulte mitnehmen. Hier findet heute nichts mehr statt.
Bis Ende erster Akt Leerzeit für die Orchesterwarte. Alle drei ‘rüber ins Intendanzgebäude, bei Tannhäuser Übertragung Noten sortieren. Die vom Konzertieren: Strawinsky hellblau, Schubert ocker und Mozart weiß. Ordnen auf großen Tischen im Blechbläser-Stimmzimmer nach Instrumenten, Stimmen und Pulten. Verschwinden fast die Tische unter hellblau, ocker und weiß. Im Notenarchivkeller ist´s noch bunter, dort stapelt sich Farbe neben Farbe: Schwanensee-Blau, Ariadne auf Naxos-Gelb, Salome-Grau, Tristan und Isolde-Tiefdunkelblau und so fort. Blick auf die Uhr und Michael Frohloff nimmt die 120 Meter Tunnel, Türen und Treppen ins Operngebäude: Ende erster Akt, Ende Applaus, Orchestergrabentür öffnen, Dirigenten rauslassen und begleiten bis ins Dirigentenzimmer. In der Opernpause 120 Meter zurück und Noten fertigordnen. Ende erste Pause: 120 Meter und den Dirigenten wieder reinlassen. „Egal, ob es ein hauseigener Dirigent oder ein Gast ist, ob er berühmt oder weniger bekannt ist, es hat was, derjenige zu sein, der ihn begleitet.“
Beginn zweiter Akt. Nichts zu tun in diesem Akt für Orchesterwarte. Dafür allerhand auf der Probebühne, zweite Etage, Intendanzgebäude: Bei Tannhäuser-Musik Beginn Orchesteraufbau La Bohème für die Sitzprobe am nächsten Vormittag. Frohloff schlägt die Kladde auf. La Bohéme hat er nicht im Kopf, wurde ewig nicht gespielt, aber in der Kladde, selber handgeschrieben. Jede Seite eine Oper, die am Haus inszeniert wurde. Also nach Blatt: Pulte, Stühle und sieben Extrastühle und -pulte für die Sänger.
„Nur die kleinen Instrumente haben die Musiker bei sich und transportieren sie selber. Wie sollte ein Pauker seine Pauke schleppen und sie dann auch noch ordentlich spielen können!“ Michael Frohloff findet nichts Besonderes an seinem Beruf. Der bedarf nicht mal einer Ausbildung. Nur in der Zeit zwischen Abitur und Studium wollte er Instrumente-Schleppen mit Musik-Hören verbinden. Musik von der Staatskapelle, versteht sich. Erst unter Suitner, dann unter Barenboim. Möglichst Salome, Wozzeck und Die Nase. „Meine erste Oper, die ich als junger Mensch sah, war Cosí fan tutte. Und ich fand es so langweilig, dass ich mich nur für Symphonien und Konzerte interessierte. Das hat sich gründlich geändert.“ Wie sein Berufswunsch. Damals wollte er Schauspieler werden. Heute ist er als Orchesterwart glücklich. „Die Gastspielreisen sind überhaupt das Beste“. Seit Jahren geht’s nach Madrid und Tokio, davor ging’s nach Paris.
Genug für heute. Morgen, zwei Stunden vor Probenbeginn, wird Manfred Ketzler den Aufbau mit Frohloff beenden. Ketzler ist der vierte Orchesterwart, ehemals Hornist in einem Blasorchester. Die beiden anderen waren zuvor Tänzer und Pförtner am Haus. Vor dem Personalabbau waren sie zu sechst. Schwieriges Unterfangen, zu viert alle Proben und Vorstellungen und die 40-Stunden-Woche unter einen Hut zu kriegen.
Ende zweiter Akt: rüber und Dirigenten rauslassen. Beginn zweite Pause. Auf dem Rückweg vorbei an der Kantine, Schrippe auf die Hand und dann zum Wunschtisch vor dem Stimmzimmer Holzbläser: Um welche Noten bittet welcher Musiker, weil er üben will? Die Liste ist lang: Lulu für’n zweiten Hornisten, Cosi fan tutte für’n dritten Bassisten, Zauberflöte für’n zweiten Oboisten, Nussknacker für’n Bassklarinettisten und so weiter. Also, bis Ende zweite Pause in den Notenarchivkeller, Wunschnoten zusammensuchen. Dann Dirigenten wieder reinlassen.
Dritter Akt. Mit Bühnenmusik. Auf Charlottenburger Seitenbühne die beiseitegeräumten Pulte wieder aufstellen. Dann Abwarten und Musik genießen bis Durchruf: dritter Akt Bühnenmusik Venusberg! Hoch zur Barenboim-Loge, Spiel abwarten, anschließend sofort ‘runter zur Seitenbühne, Spiel abwarten, anschließend sofort ganz nach unten, Orchestergrabentür für den Dirigenten öffnen. Schluss der Vorstellung. Frohloff lehnt an der Orchesterbrüstung, blickt hoch zur Bühne, beobachtet Sänger und Dirigenten, die sich beim Publikum für den Jubel bedanken. „Man freut sich mit, ist doch ganz klar.“
Sobald sich die Zuschauer aus den Rängen entfernt haben, beginnt der Orchesterabbau: er dauert eine Stunde.