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Nono, Goeyvaerts und Stockhausen. Foto: Doris Stockhausen
Nono, Goeyvaerts und Stockhausen. Foto: Doris Stockhausen
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Das Kunstwerk als „een voorlopige weergave“

Untertitel
Der (Mit)begründer des Serialismus Karel Goeyvaerts in Selbstzeugnissen
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Der erste Gedanke: Was für ein merkwürdiger Titel! „Selbstlose Musik“? War und ist Musik nicht immer gebunden an dieses Selbst, das sich als Ich in der Musik ausspricht und alles, was es empfindet, denkt und will, in und als Musik Gestalt werden lässt? Und jetzt soll Musik vom Selbst ganz „los“ sein? Geht das überhaupt? – Es ist dies, soviel vorweg, die Einstiegsfrage, deren Beantwortung die Lektüre dieses Bandes zu einem aufregenden Erlebnis werden lässt. Beginnen sollte man seinen Antwortversuch mit einer Bildbetrachtung. Mit sicherem Gespür haben die Herausgeber von Edition MusikTexte, in deren Verlag dieser schöne Dokumenta­tions­band erschienen ist, einen berühmt gewordenen Schnappschuss (der späteren Doris Stockhausen) mit aufgenommen. – Darmstadt, Frühjahr 1951. Der junge Luigi Nono (mit Anzug, Weste und Krawatte in diesem Kontext leicht overdressed) im Gespräch mit dem 22-jährigen Karlheinz Stockhausen, der, hingestreckt auf der Wiese der Darmstädter Marienhöhe, dort fast so daliegt wie der Diskutierende in „Le déjeuner sur l’herbe“, Manets bekanntem „Frühstück im Grünen“.

Zwischen den Beiden ein dritter Mann. Den Kopf hat er in die Hand gestützt. Eine Grüblerpose. Der Blick geht nach unten.

Dieser dritte Mann

ist der belgische Komponist Karel Goeyvaerts, 1923 in Antwerpen zur Welt gekommen und dort 1993, 70-jährig, gestorben. Wer einschlägige Musikgeschichten, etwa die von Ulrich Dibelius, konsultiert, wird den Namen wiederfinden, wenngleich doch kaum im Kontext eines eigenen, diesem großen Unbekannten gewidmeten Kapitels. Dabei steht dieser Karel Goeyvaerts in den Werklisten, die dieselben Musikgeschichten fürs Jahr 1951 aufgestellt haben, mit seiner „Sonate für zwei Klaviere“ gleich hinter Messiaen an zweiter Stelle, gefolgt von Stockhausens „Kreuzspiel“, Boulez’ „Polyphonie X“, Henzes „Boulevard Solitude“, Nonos „Polifonica – Monodia – Ritmica“.

Dazu offeriert Herausgeber Mark Delaere die Innenansichten dieses gro­ßen Unbekannten in einer liebevoll gemachten deutsch/niederländisch/französischen Ausgabe. Die ganze Goey­vaerts-Welt ausgebreitet auf 560 Seiten: In den autobiographischen Skizzen, in den (veröffentlichten wie unveröffentlichten) Schriften, in den Gesprächen, die der Komponist mit Musikjournalisten und -publizisten geführt hat, und in den Briefen, die er gerichtet hat unter anderem an Jean Barraqué, Henri Pousseur, Ludwig Vandevelde und – an Karlheinz Stockhausen. In allem wird auf Schritt und Tritt spürbar, dass in Karel Goeyvaerts ein eminenter Musikphilosoph steckt. Faszinierend mitzuverfolgen, wie die Kreation des seriellen Kompo­nierens von einem hellwachen Bewusstseinsprozess assistiert wird. Was tun wir, wenn wir Tonbänder kleben, wenn wir seriell komponieren? Was bedeutet das alles? Wem ist damit gedient? Das sind die Fragen, die sich Karel Goeyvaerts unablässig stellt, als er um 1950, ausgehend von seiner Webern/Messiaen-Erfahrung und seiner Darmstadt-Pilgerreise, den Horizont des Komponierens erweitern hilft. Die dazu passenden Theoreme entnimmt er der heroischen Vergangenheit der europäischen Philosophie. „Algemene begrippen aangaande het creatieve“ lautet der Titel eines „unvollständigen Typoskripts“, das der Herausgeber im Nachlass gefunden hat und das Goeyvaerts selbst datiert hat mit

„+/– 1950“

Wenn es sich dabei tatsächlich (wie Delaere vermutet) um jenen Vortrag handelt, den Goeyvaerts im Frühjahr 1952 im Rockoxhaus in seiner Heimatstadt Antwerpen gehalten hat, könnte man sich über dessen Umstände nicht genug wundern. „20 Zuhörer“ seien dagewesen, schreibt Goeyvaerts an Karlheinz Stockhausen. „Nur zwei haben etwas verstanden.“ Darunter ein mit deutscher Tradition und Ideengeschichte vertrauter Musikwissenschaftler sowie sein „zweiter Bruder (der Arzt)“. Der andere, muss man wissen, ist Priester geworden, ein Stand, den ihm der Vater (wenn man Karel Goeyvaerts‘ Autobiographie richtig deutet) auch ihm zugedacht hatte. – Und was war es, was die Zuhörerschaft so offenkundig überfordert hat? Sätze wie diese: „Het eeuwige in de schoonheid is een geestelijk element, dat in het kunstwerk slechts een voorlopige weergave vindt.“ „Das Ewige in der Schönheit ist ein geistiges Element, das im Kunstwerk nur ein vorläufiges Abbild findet.“

Platonismus in Reinkultur

Kurios wie Goeyvaerts, der das historisch Bedingte in allen Formen der Musik und des Komponierens nicht genug betonen kann, eine Figur bemüht, die aller Geschichte enthoben ist. Nicht weniger aufschlussreich die Fortsetzung dieses Gedankens. Selbstverständlich, so Goeyvaerts, ist das Kunstwerk – „het voorlopige weergave“, das „Abbild“ – „Material und Zeit unterworfen“, ist also durch und durch historisch bedingt, woraus sich aber für ihn überraschenderweise ein Makel ergibt, „bezieht“ es doch „daher seine ganze Unvollkommenheit“, „en heeft hiervan dus al de onvolmaaktheid“. „Nichts entkommt den Bedingungen der menschlichen Existenz“ resümiert Goeyvaerts und hat damit alles zusammen, was seine Theorie der künstlerischen Produktion ausmacht: Kunstwerk braucht Form („vormscheppende inhoud“) und den Künstler. Denn letzterer ist – leider – der „menselijke conditie“ unterworfen, ist also „onstandvastig en eenzijdig“, „unbeständig und einseitig“. Die Folgerung daraus ist sonnenklar. Eigentlich muss Musik, muss das Musikschaffen, also das Komponieren die Quadratur des Zirkels vollbringen, muss „selbstlos“ sein wie Goeyvaerts es in seinen Briefen an Stockhausen ausführt.

Man sieht, dass dieses Künstlerleben notwendig reich sein muss an Krisen und Brüchen. Ein Jahrzehnt etwa arbeitet Goeyvaerts (vollkommen kunstfern und wahrhaft selbst-los) als Übersetzer für die belgische Fluggesellschaft Sabena. Was allerdings bleibt, ist seine katholisch-theologische Ästhetik. Selbst als sich Goeyvaerts 1958 vom Serialismus verabschiedet (womit dann auch die Stockhausen-Korrespondenz endet), bleibt dieser Hintergrund wirksam. Musik, kann Goeyvaerts sagen, ist nicht der Ausdruck des Individuums, sondern des „Wesens Gottes“. „Es kommt mir so vor“, schreibt er 1952 an Stock­hausen, „als ob Gott uns aufgetragen hat, das Entstehen einer Musik zu vermitteln, in die unser menschliches Wesen nicht mehr einbezogen ist“. Der Künstler als Sprachrohr des Absoluten; das Subjekt, das die Subjektlosigkeit propagiert; das Individuum, das den Individualismus negiert. In diesem eigentümlichen Widerspruch hat sich Goeyvaerts bewegt – von seinen frühen seriellen Arbeiten, über die repetitiv-meditative Musik der Zwischenzeit bis in die vom Glauben an die bevorstehende Zeit des Wassermanns geprägte Gesellschafts-Oper „Aquarius“.

Ein Glücksfall

ist der jetzt erschienene Dokumentations­band auch deswegen, weil er das Zerrbild auflöst, wonach Goey­vaerts vorgeblich bloße Assistenzfigur gewesen sei für einen Karlheinz Stockhausen, dem die ganze Welt das Etikett „Vater der seriellen Musik“ angeklebt hat. Deutlich wird, dass derselbe Stockhausen, aus welchen Gründen auch immer, versucht hat, den Anteil seines Freundes zu verschleiern, womit sich letzterer, wie er sagt, dann „einfach abgefunden“ habe.

1988 kommt Karel Goeyvaerts noch einmal zurück zu den Darmstädter Ferienkursen. Dort wird sein Versuch, im Rahmen eines Vortrags zur „Idee einer neuen Menschheit“ die „Utopie“ mit dem Gedanken der „Hierarchie“ zu verknüpfen, spürbar reserviert aufgenommen – womit es auf einmal wieder da ist: das Bild, die Momentaufnahme eines zwischen den Stühlen befindlichen Grüblers. Dass Karel Goeyvaerts, eigentlich der Prototyp des antiindividualistischen Individualisten, mit dem Serialismus einmal eine musikalische Avantgarde-Bewegung ausgelöst hat, ist so gesehen eine sehr ironische Erinnerung.

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