Hauptbild
Szene aus Manfred Trojahns Opernaufführung von „Orest“ in Amsterdam. Foto: Herrmann und Clärchen Baus
Szene aus Manfred Trojahns Opernaufführung von „Orest“ in Amsterdam. Foto: Herrmann und Clärchen Baus
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Das Land der Oper mit der Seele suchend

Untertitel
Ein langer Weg in die Antike: Manfred Trojahns „Orest“ in Amsterdam
Publikationsdatum
Body

Der Begriff der Postmoderne ist – selbst als historischer – von nur begrenzter Triftigkeit. Denn natürlich hätten schon die „Neudeutschen“ (Berlioz, Liszt, Wagner, Wolf, Strauss) mit diesem etwa Brahms als Abtrünnigen ihrer „Zukunftsmusik“ schmähen können: als Verräter an der Avantgarde, kompromisslerischen Sucher nach heilig-heilen Traditionsbezügen – und im Wahn befangen, die Historie halte Rettendes fürs unübersichtliche Heute bereit.

Noch Alban Berg galt in seinem unverwechselbaren espressivo, seinen bisweilen kryptotonalen Assoziationen quasi noch oder schon wieder „romantischer“ als Schönberg oder auch Webern. Vollends trat in den siebziger Jahren eine Gruppe deutscher Komponisten auf, die, bei allen Unterschieden, sich als Anti-„Avantgarde“ verstanden. Einig waren sie sich in der Abkehr vom „Mekka der Moderne“, den Darmstädter Ferienkursen, die sie nicht selten reflexhaft pauschal zur orthodox monolithischen Trutzburg des Serialismus dämonisierten – und in der Frontstellung gegen Technologisches, wie die Elektronik, aber auch gegen die Negation des „Werk“-Begriffs durch die Aleatoriker oder Improvisations-Künstler. Ihre Identifikationsfiguren hießen Henze oder Ligeti, auch wenn beide keineswegs auf einen Nenner zu bringen sind. Das Tabu über der Tonalität mochten sie nicht akzeptieren; und Sinfonie wie Oper waren für sie erstrebenswerte Gattungen und Formen. 

Manfred Trojahn, Wolfgang Rihm, Hans-Jürgen von Bose, Detlev Müller-Siemens, Wolfgang von Schweinitz, Hans-Christian von Dadelsen, Manfred Stahnke, Detlev Glanert waren sich allerdings mehr in ihren Feindbildern und Ahnherren einig als in ihren individuellen Zielen. Doch einem Schlagwort sind sie nicht entronnen: neue deutsche Romantik. Aribert Reimann indes, nicht zufällig vor allem Opernkomponist und durchaus auf Distanz zu „Darmstadt“, ist diese Etikettierung nicht zuteil geworden.

„Neu“ freilich hieß damals durchaus Heterogenes: die „Neue Deutsche Welle“ der Pop-Musik, die wuselig vielsträhnige „Neue Einfachheit“ der Moderne – und nicht zuletzt die „Neue Frankfurter Schule“ (NFS) der Satiriker um Eckhard Henscheid und Robert Gernhardt mit ihren spöttisch weiterführenden Anspielungen auf Adornos „Kritische Theorie“, für nicht wenige angeblich Pendant zum oft nur behaupteten Darmstädter Dogmatismus. 

Manfred Trojahn, neben Wolfgang Rihm der Prominenteste und Produktivste der Gruppe, ist (Jahrgang 1949) gewiss kein „junger“ Komponist mehr. Und gar hermetische Einheitlichkeit kann man seinem Komponieren keineswegs nachsagen: Mäandernde Entwicklungen, Gegensätzliches, ja Widersprüchliches gehören dazu. Kennt man Trojahn ein wenig, so lassen sich sogar leicht gespaltene Züge entdecken, hängt er doch an mancherlei Traditionen, ohne sich deshalb gleich als Nostalgiker zu „outen“. So mag es kein Zufall sein, dass seine erste Oper, „Enrico“ (1991), auf Pirandellos Drama „Enrico IV.“ basiert, in dem Fiktion und Realität spielerisch-grausam ineinander übergehen. Ein programmatisches Statement Pirandellos wirkt da erhellend: „Jeder macht sich seine Maske zurecht, wie er’s vermag – die äußere Maske. Denn drinnen hat er die andere, die oft mit der äußeren nicht zusammenpasst.“ Dass Trojahn ein Faible für Maurice Ravel mit seiner Neigung zu Stil-Masken-Spielen hat, erstaunt nicht. Wie denn überhaupt Trojahns musikalisches Weltbild vielschichtig zusammengesetzt erscheint, nicht nur aus Tradition und Moderne, sondern auch aus nördlichen und südlichen Impulsen: So wie ihm die skandinavische Welt (Sibelius, Nielsen, nicht zuletzt der erratische Sinfoniker Allan Petterson, für dessen bohrende Sechste er sich auch als Dirigent stark gemacht hat) viel bedeutet, so haben ihn längere Rom- und Paris-Aufenthalte geprägt: Debussy wie Puccini waren ihm keine geringen Vorbilder. So schrieb er 2006 für die Klavier-Sektion des Münchner ARD-Wettberbs zwei „Pflichtstücke“, durchaus als Hommage an Debussys Préludes. Vom Dialog mit großer Vergangenheit zeugten nicht minder seine neukomponierten Recitative für Mozarts „La clemenza di Tito“.

Trojahns ästhetisches Spektrum ist breit, breiter als seine gelegentlichen Ausfälle gegen die „Avantgarde“, Boulez wie Lachenmann, vermuten lassen. Zwar gibt es Kammermusikwerke, die streckenweise klingen, als gelte es, Schubert weiterzuschreiben, doch bei seinen Literaturopern („Was ihr wollt“, „Limonen aus Sizilien“, „La grande magia“) setzt er auf Komplexität, Künstlichkeit, Spannungsreichtum zwischen den Zeiten. 

Gleichwohl sollte man sich auf selbst langfristig gewonnene Einschätzungen nicht verlassen. Auch Trojahn kann massiv überraschen: Seine jüngste Oper nämlich verschiebt manche Perspektiven. Zwar schließt sie, maskenhaft, mit einem Zitat, freilich nicht reiner Musik: „Orest“ – mit diesem lange nachgellenden Schrei der Chrysothemis endet Strauss’ „Elektra“. Der Name des mythischen Muttermörders als letztes Wort. Bei Trojahns Oper über diesen bleibt ebenfalls nur „Orest“ in den entfernten Frauenstimmen übrig. Zufall ist dies schwerlich, suggeriert eher unentrinnbar fortwirkendes Verhängnis: der Mythos als Schreckens-Spirale. Trojahn, vielfältig gebildet, hat diesmal keine „Literatur-Oper“ komponiert, sondern den Text selber verfasst; mag auch das Atriden-Sujet antikisch hoch besetzt sein. So ist in der never ending Clan-Saga stets auch der fundamentale Konflikt zwischen Matriarchat und Patriarchat enthalten: Wer ist schlimmer, die Gattenmörderin oder der Muttermörder? Inaktuell ist der Familien-Horror keineswegs: Kehren Männer aus langen Kriegen heim, haben sich ihre Frauen inzwischen anders gebunden, droht die sex-and-crime-Eskalation. Zwingend hat dies Eugene O’Neill in seiner „Trauer muss Elektra tragen“-Trilogie auf den amerikanischen Bürgerkrieg projiziert. Und dass Fanatiker im Wahn „höheren“ Auftrags morden, ist blutige Realität.

Trojahns Abkehr von der „Oper“ ist konsequent: Sein „Musiktheater in sechs Szenen“ verweigert lineare Narration und tonale Absicherungen. Dramaturgisch bleibt Orest zwar zentral: Von Schuldgefühlen gejagt, zweifelnd an seiner Täter-Authentizität (tötete er nicht auf Geheiß des Männlichkeitsgottes Apoll?), wird er von sechs Frauenstimmen und Violinen verfolgt, die ihn nicht nur um- und durchdringen, manchmal nur wortlos hechelnd, sondern auch als Todesschrei Klytämnestras aus ihm selber dringen. Und die als rächende Erinnyen den Gepeinigten immer wieder mit frenetischen Tritonus-Attacken überziehen. Im Raumklang verschmelzen so innen und außen; Trojahns Musik ist darin ungewohnt „haptisch“ intensiv.

Doch auch, wenn Personal und „plot“ bekannt sind, bricht Trojahns Libretto mehrfach das klassische Muster, lässt die mythischen Bestandteile auseinanderdriften oder sich überlagern. Das mörderische Geschwisterpaar Orest und Elektra, die hier fast zur fanatisch antreiberischen Schwester der Lady Macbeth wird, soll gesteinigt werden. Menelaos, mit der so unheilvoll schönen Helena zurückgekehrt, rät zur Flucht, bleibt aber feige und schwach. Dafür greift Apoll ein, ein durchaus zynischer Drahtzieher und Manipulator, der nach Bedarf zu Dionysos mutiert. Assoziationen an Wolfgang Rihms „Dionysos“ stellen sich nicht zufällig ein – wie denn überhaupt Mythisches aller Art derzeit wieder hoch im Schwange ist. Auch Trojahn kombiniert archaische Ur-Konflikte mit spätbürgerlicher Psychologie; und dies fast im Sinne psychiatrischer Versuchsanordnungen: Die Eingeschlossenen der hier so gar nicht diskret charmanten Bourgeoisie. Dass man an Viscontis grandiosen Film „Die Verdammten“ denken muss, ist alles andere als abwegig.

Trojahns „Orest“ enthält, wie keineswegs selten, viel, manchmal zu viel Text, der sich nicht immer vermittelt. Doch entfaltet die Partitur oft ungeahnte Autonomie und umgibt den Hörer mit einer dichten, farbigen Fülle orchestraler Aktionen und stiftet so suggestive Innenräume. Einige fast illustrative, selbst tonale Anspielungen verweisen auf Opern-Traditionen, die Trojahn nicht partout verleugnen will. Das Nederlands Philharmonisch Orkest sorgte unter Marc Albrecht im Amsterdamer Muziektheater für bemerkenswertes Filigran wie Klanggewicht. 

Ein solches Antiken-Schreckens-Kabinett archaisch geometrisierend, gar im Sinne „edler Einfalt, stiller Größe“ auf die Bühne zu bringen, wäre nur unfreiwillig komisch. Doch dass Hyper-Horror und burlesker Effekt zusammengehören, belegt auch Katie Mitchells Regie in Giles Cadles Bühnengehäuse, halb Klinik, halb Salon-Sanatorium: Wenn der rasende Orest Helena mit der Bohrmaschine massakriert, löst solcherart Mordlust des entfesselten Heimwerkers zurecht Heiterkeit aus, wird doch maßloses Grauen ins Lust-Spiel übersteigert. Da ahnt man immerhin die latente Kriminalkomödie, die gerade im Schreckens-Extrem lauert: Antike à la Agatha Christie oder: Der Mythos als Seifenoper. Ansonsten sieht man simultan unten den Salon samt obligatem Flügel, daneben den Behandlungsraum mit Sofa für den Patienten Orest, einen gewiss schweren Fall. Oben links befindet sich das Bad, in dem Agamemnon „geschlachtet“ wurde, recht das Schlafzimmer, an dessen Rückwand unablässig, wie von einem Lady-Macbeth-Kollektiv, Blutflecken verwischt werden. 

Die Monster-Baritonpartie des Orest wurde von Dietrich Henschel zum bewegenden Schmerzensmann-Porträt gemildert, allenfalls durch die schließlich tröstlich aufscheinende Möglichkeit einer „entsühnenden“ Verbindung mit Hermione, dem schönen hohen Sopran Romy Petricks. Helena wird attraktiv von Rosemary Joshua gesungen und verkörpert, Elektra intensiv von dem Mezzo Sarah Castle. Als gefährlich gleisnerischer Doppel-Gott exzelliert der hohe Tenor Finnur Bjarnason als schillernder Zauderer Menelaos der Tenor Johannes Chum. Die Amsterdamer Uraufführung ist überaus zwingend geraten, demonstrierte insgesamt das eminente Potenzial des Hauses. Dies ist um so wichtiger in Anbetracht der Kulturfeindlichkeit der rechtspopulistischen Kräfte in den Niederlanden, die zwar die Groß-Institutionen weiterfördern wollen, weit weniger aber ungemütliche Inhalte. Auch insofern hat die Produktion Signalcharakter. 

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!