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Moritz Eggert. Foto: Hufner
Moritz Eggert. Foto: Hufner
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„Das macht man heute nicht mehr“

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Absolute Beginners 2019/05
Publikationsdatum
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Brave Studenten hören auf das, was ihre Lehrer sagen. Gute Studenten hören NICHT IMMER auf das, was ihre Lehrer sagen. Es ist schon seltsam – einerseits ist es jedem klar, dass Kunst keineswegs eine abgezirkelte Sache ist, die nach klaren und immer gleichen Regeln funktioniert.

Wir wollen, dass Kunst Grenzen überschreitet, uns herausfordert, Dinge in Frage stellt, neue Räume öffnet. Seltsamerweise leiten wir dann aber aus dem, WAS Grenzen überschreitet, herausfordert und in Frage stellt, gerne Regeln ab, die sicherstellen sollen, dass alles immer auf dieselbe Weise herausfordert, Grenzen überschreitet und in Frage stellt. Das ist ungefähr so sinnvoll, als wolle man jemanden, der gerade zu einer Expedition in unerforschten Regenwald aufbricht, ein Handbuch mitgeben, in dem das Ausfüllen einer Steuererklärung beschrieben wird.

Seit etwa die großartigen klanglichen Grenzüberschreitungen eines Helmut Lachenmann zur Norm wurden, seit Handbücher für alle Instrumentalisten zur Verfügung stehen und jeder Komponist sich die Multiphonics und Effekte aus einem Katalog heraussucht, sind genau diese Techniken als Grenzüberschreitung uninteressant geworden. Dennoch gibt es viele Komponisten, die der Meinung sind, dass man zum Beispiel „normale“ Töne nicht mehr schreiben kann, dass man „sowas heute nicht mehr macht“.

Das einst Ungewöhnliche ist aber nun Repertoire, es steht zur Verfügung und muss nicht mehr errungen werden. Da das künstlerisch nicht mehr so spannend ist, wäre es zum Beispiel eine absolut legitime Haltung, sich als junge Komponistin von heute nicht mehr dafür zu interessieren, genauso wie sich auch ein Carl Philipp Emanuel Bach nicht mehr so für die kontrapunktischen Verrenkungen seines Vaters interessierte und dennoch Großes schuf.

Ein flüchtiger Blick in die Musikgeschichte offenbart, dass die Komponisten, die wir heute lieben und verehren, nie diejenigen waren, die dem Geschmack der Zeit perfekt entsprachen. Nein, sie entsprachen der vorherrschenden Ästhetik eben NICHT, wurden verlacht oder nicht für voll genommen und nur in den seltensten Fällen so gewürdigt und bewundert wie wir sie heute würdigen und bewundern. Dennoch tut man nach wie vor heute so, als müsse man genau dem Zeitgeschmack entsprechen, um im Reigen der Aufnahmeprüfungen, Stipendien und Förderungen ernst genommen zu werden. Wird man denn aus der Geschichte nie klug? Warum stellt man rigide Regeln für eine Kunst auf, die zu 99 Prozent von Regelbrechern geprägt wurde? Das wäre ungefähr so, als würde man Wissenschaftlern beibringen, auf keinen Fall zu forschen, sondern nur die Experimente der Vergangenheit zu wiederholen. An unseren Akademien brauchen wir also eine größere Toleranz gegenüber den Verrückten, den Eigenartigen, den Andersdenkenden. Denn später werden wir sie am dringendsten brauchen, wenn es wieder mal heißt „wie geht es weiter mit der Musik?“.

Stattdessen aber kommt der Satz: „Das macht man heute nicht mehr“. Wer auf diesen Rat hört, ist brav und damit vielleicht sogar eine Zeit lang erfolgreich im Reigen der künstlerischen Herdentiere … aber wer wirklich Künstler ist, liebt die Freiheit mehr als die Norm. Ohne Freiheit keine Kunst, ohne Begeisterung für diese Freiheit kein Glück mit der eigenen Kunst, ohne Glück mit der eigenen Kunst keine Kunst, die andere glücklich machen kann.

Ich wünsche daher allen Rebellen, Revolutionären und Freidenkern unter den Künstlern, dass sie bei diesem Satz eher neugierig werden, ungefähr so, wie eine Naschkatze Lust auf den verbotenen Schrank mit den Süßigkeiten bekommt.

Ich widme diesen Artikel dem jungen chinesischen Komponisten Leyou Wang, der aus mir unerfindlichen Gründen bei der Aufnahmeprüfung in Stuttgart Null Punkte bekam, obwohl er sehr originelle und individuelle Musik auf hohem Niveau schreibt, aber so, wie man es anscheinend nach Ansicht der Prüfer „heute nicht mehr machen darf“. Wenn er auch in Zukunft nie darauf hören wird, freue ich mich schon jetzt auf seine weiteren Stücke, denn es könnte sich bei ihm tatsächlich … um einen Komponisten handeln!

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